Reden wie ein Arschgesicht

Übersetzung Raymond Queneaus präpotente Göre Zazie irrt wieder durch die Geilo-Welt von Paris
Ausgabe 34/2019
Aufnahme aus der Verfilmung „Zazie dans le métro“ von 1960
Aufnahme aus der Verfilmung „Zazie dans le métro“ von 1960

Foto: Imago Images/United Archives

Es herrscht Streik in der Weltmetropole Paris, eine rotzige Jugend interessiert sich kein bisschen für die Monumente der großen Zivilisation, nicht für Napoleon Bonaparte und seinen Hut, nicht für die Philosophie von René Descartes. Aktueller als Zazie dans le Métro kann ein Roman nicht sein, dabei ist Zazie schon 60 Jahre alt. Was die überdrehte Parodie auf einen elegischen Mythos Paris auf unfassbar komisch respektlose Weise seit 1959 erzählt, ist heute unveränderte Wirklichkeit. Kreischend verstopfen Touristen und Passanten neben dem Streik der Metro tagsüber die Boulevards, am Abend werden sie in Shows und Travestien unterhalten, etwa von Zazies Onkel Gabriel.

Die Neu-Übersetzung des Romans von Raymond Queneau von Frank Heibert löst die kongeniale Erst-Übersetzung von Eugen Helmlé ab, die sich 1960 an die Erst-Veröffentlichung des Originals anschloss, zeitgleich mit der ebenso kongenialen Verfilmung von Louis Malle mit Catherine Demongeot in der Titelrolle und Philippe Noiret als Gabriel. Der Autor hatte viele Jahre an dem burlesken Werk gearbeitet und mehrere Versionen erprobt, von denen nun auch Teile erstmals zum Vorschein kommen.

Zazie ist von der „neuen Generation“ und der kinderlose Onkel, der versprochen hat, ein Wochenende auf das Kind vom Land aufzupassen, verschließt sich der Herausforderung nicht „Kinder muss man eben verstehen.“ Selbst wenn sie treten, motzen, fluchen, ausbüchsen. Auch der Leser muss sich auf ein Abenteuer einlassen. Das konventionelle Französisch, die europäische Literatursprache schlechthin, wird nicht nur frech, sondern despektierlich in einem Duktus des Mündlichen („A rvoir“), der Vulgarismen („dingue“) und Agrammatikalitäten („hormosessuell“) zersetzt. Ganze Sätze werden zu Einwortbrocken verschleißt und nicht nur Zazie spricht in der mon-cul-Sprache, der Sprache der Arschgesichter.

Neben der überbordend äquivalenten Sprachphantasie der neuen Übersetzung ist sie auch ein Studienbuch mit klugen Anmerkungen geworden. Für die Liebhaber öffnet Frank Heibert in seinem Nachwort sein eigenes Schatzkästlein und erklärt, wie es zu welchen Sprachentscheidungen kam, wie sich die Eigennamen aufschlüsseln lassen (Madame Lalochère), welche Anspielungen in die Literatur oder in die Oper führen (Turandot).

Was akribisch als „stilistische Verfahren“ dechiffriert wird, ist allerdings mehr als das. Dass Raymond Queneau die Rhetorik der Poetik äußerst gelenkig beherrschte, zeigt sein Werk Stilübungen. Dass dabei die Oulipisten, zu denen Raymond Queneau gehörte, eine literarische Gruppe, die ein neues Schreiben erprobte, keinen Stil, auch keine poetische Jonglage im Sinne hatte, sondern eine Kombinatorik sprachlicher Einzelelemente bis an die Grenzen der Verstehbarkeit treibt, kommt hier zu kurz.

Jetzt mal langsam aufwachen

Die Rebellion der alten Zazie neu zu lesen, hat etwas geradezu Tröstliches. Der aktuelle Chaotismus scheint sich von dem der 1960ern nur minimal zu unterscheiden. Die erste Übersetzung war daher kaum weniger zeitgemäß, nun haben wir eine weitere Version aller möglichen Sprach-Möglichkeiten von Literatur. Unbegründet ist damit auch jedes weitere Lamentieren über die Verrohung unser Sitten und Sprachen in einer Geilo-Welt. Denn zyklisch kehrt es wieder, das lehrt uns Zazie: die neue auf die alte Welt und dann auf die neue alte Welt eine neue Generation.

Als Zazie abreist, sinniert sie über ihren surrealen Ausflug am Ende: „Ich bin älter geworden.“ Für eine dreizehnjährige Göre heißt das: erwachsen werden. Walter Benjamin bezeichnete das Erwachsen-Werden in seinen Notizen über Paris als eine „Technik des Erwachens“, aus einer Traumstadt.

Info

Zazie in der Metro Raymond Queneau Aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Frank Heibert, Suhrkamp 2019, 240 S., 22 €

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