»Rübergehen und den Märtyrer spielen, was? Deine Sorte kenne ich doch: Ihr sitzt im Schmollwinkel und beweint eure verlorene Freiheit..., du hast dir nicht die Freiheit genommen, den Mund aufzumachen. Denken ist die erste Bürgerpflicht, mitreden ist die zweite.«
Mitreden. Ich werde mir den Mund verbrennen ... Gleich heißt es Fehlerdiskussion ...«, lässt Brigitte Reimann die Geschwister in der gleichnamigen Erzählung von 1963 streiten.
Der Sozialismus war am Ende, als er die Mauer bauen ließ. Denn Grenzschließungen sind so etwas wie Endzeitreaktionen. Es scheint keinen anderen Weg zu geben als den, rigoros bewachte Striche zwischen Ländern zu zementieren, den Entscheidungsraum des Einzelnen oder ganzer Gruppen zu begrenzen, die eigene Macht als »Diktatur des Proletariats« auch mit dem Mittel der totalen Abschottung durchzusetzen. Wer ihn wählt, hat die Hoffnung aufgegeben, sich auf andere Weise durchzusetzen.
Befürworter des Mauerbaus würden das anders beschreiben. Für sie war es Rettung des Erreichten. »Kein Staat der Welt sähe seiner Unterminierung tatenlos zu«, sagten sie. Abwanderung, Kritik, selbst andere Vorstellungen von sozialistischer Politik wurden ihrer Meinung nach von außen geschürt. Außen war Bundesrepublik, außen war auch, was innen nicht Partei war. »Führende« Partei, die von der Besatzungsmacht vorgegebene Steuerungssysteme überzeugt durchsetzte. Solche Parteien folgen geschlossenen, in sich logischen ideologischen Vorgaben und sind von innen schwer zu knacken. Nach dieser Denkart ist jeder Feind, der nicht Freund ist, also andere Vorstellungen vom Leben hat. Der Kalte Krieg war nicht auf deutschem Mist gewachsen, aber hier tobte er. Die Garantiemächte USA und Russland schenkten sich nichts und in ihrem Schutz agierten die zwei deutschen Staaten wie Kängurujunge: Aus dem Beutel heraus aufeinander einboxend. Jeder »Republikflüchtling« lieferte »dem Westen« Argumente. »Den Märtyrer spielen«, nennt die Reimann das. Wer in der DDR blieb, hatte dem weder besseres Leben noch größere Freiheiten entgegenzusetzen, dafür wurde er mit der Aura des besseren Menschen umgeben. Er gehörte zu jenen, die das große sozialistische Ideal erkämpften, auch um Schuld abzutragen. Für ihn war die Einschränkung von Meinungsfreiheit unumgängliche Folge des Faschismus und Bedingung für den Aufbau der neuen Welt. Das Volk war erwiesenermaßen verführbar. Wohlleben war nach diesem Krieg und den deutschen Verbrechen unverdient, bestenfalls in Zukunft denkbar. Der »neue Mensch«, »unser Mensch«, wie das in der Parteisprache hieß, war die Verkörperung eines Ideals: Weltverbesserer, Friedensstifter, einer, der für Gleichheit und Brüderlichkeit lebt und sie als »führende Kraft« lenkt, sich aber gleichzeitig der »kollektiven Weisheit« der Partei bedingungslos unterwirft. Einer, der den Faschismus mit den Wurzeln ausrottet. In dieser Logik war es kriminell, anzumerken, dass »Gleichheit« und »führende Kraft« sich bissen und ein Wort wie »ausrotten« für die Selbstbeschreibung nicht taugte.
Die offene Grenze war als Problem Nummer eins ausgemacht. Die Mauer sollte Löcher stopfen, aus denen ununterbrochen Volk floss. Mal freiwillig, mal durch wunderbare Angebote gezogen - auch der Westen war nicht fein. Geschützt von der großen Mutter Sowjetunion und einer unüberwindbaren Grenze wollte man nach 1961 so weit kommen, dass der Weg in die ideale, gerechte Welt nicht mehr von »Agenten« und »Diversanten« gestört werden konnte.
Der Bonus Verfolgung und Antifaschismus trug (noch), jedenfalls in der Hälfte der Bevölkerung, der Elisabeth (Betsy) angehört: die Schwester von Ulrich aus den Geschwistern. Auf die Frage, warum die von der gleichen Tür aus in verschiedene Richtungen laufen, weiß die Reimann: »Betsy hat Gemüt... Betsy denkt mit der Seele. Für sie bedeutet Sozialismus hienieden Brot genug für alle Menschenkinder und Rosen und Myrten natürlich...« Die Anlehnung an Heine beschreibt gleichzeitig die Adaption humanistischer Ideale und wurde auch von Intellektuellen als Legitimation für den sozialistischen Weg verstanden. Dass Leute wie Betsy gelernt hatten, es sei ihre historische Mission, andere Menschen zum Glück zu zwingen, wurde noch nicht in Frage gestellt. An der Seite von Idealfiguren organisierte man die neue Welt. Und selbstverständlich musste man dafür Pläne anderer durchkreuzen, zur Not mittels Verrat.
Idealfiguren waren im realen Leben indes rar. Die, mit denen offen geredet werden konnte, sowieso. Der 17. Juni 1953 lag acht Jahre zurück, aber noch immer fand die Parteiführung es unnötig, der Bevölkerung Schritte zu dem, was Sozialismus sein sollte, zu vermitteln. Sie wollte Gefolgschaft. Mit dem Satz von der »Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit« wurde so lange argumentiert, bis Freiheit nur noch aus Notwendigkeiten bestand. Und drohend im Hintergrund blieb die Mitschuld am Krieg. Des Volkes, nicht der Führung. Das Volk musste sich ändern, wenn es seine Chance verdienen wollte.
Auch dazu sollte die Mauer dienen: Erziehung als Parteiauftrag im weitgehend geschlossenen Raum. Die dritte Säule der Ideale der Französischen Revolution, Freiheit, wurde als Bedingung von Sozialismus nicht einmal gedacht. Der ewige Auftrag, jeden und jede marxistisch zu bilden, »heranzuziehen«, wurde auf exaktes Benutzen der Floskelsprache verkürzt. Dahinter verbarg sich nicht Fürsorge, sondern Hochmut gegenüber jenen, die nicht »Avantgarde« waren. Was den »Apparat« nicht hinderte, sich von dort bei jedweder Gelegenheit Beifall zu organisieren.
»Die Tatsachen sind: Der Mensch ist nicht dazu gemacht, Sozialist zu sein. Zwingt man ihn dazu, macht er groteske Verrenkungen, bis er wieder da ist, wo er hingehört: an der fettesten Krippe« . (Christa Wolf in »Der geteilte Himmel«)
In diesem Satz paaren sich Prophetie, Selbstbegrenzung und Trauer. Warum lässt sich nichts von dem verwirklichen, was in den ewigen Menschheitsidealen wabert?
Als die Gerüchteküche den Bau einer Mauer mitten durch die Stadt verkündete, hielten es viele Berliner für einen gar nicht komischen Witz. Sie glaubten, den verzwickten Grenzverlauf, die Versorgungssysteme, die Bahntrassen, die auf Sektoren keine Rücksicht nahmen, zu kennen. Sie konnten die Hauswand als Grenze und den ausgangslosen Keller als Bahntrasse nicht denken und sie wollten es nicht. Die Jungen hatte gerade begonnen, die starren Dogmen zu übertreten. Während der letzten Kriegsjahre geboren, konnte man Schuld an ihnen schlecht festmachen. In der DDR aufgewachsen, nahmen sie ein Schulsystem in Anspruch, das sich erst in Beschränkungen übte. Wer gut genug war und halbwegs ehrgeizig, machte sein Abitur. Dass die Regierenden vom »Brechen des Bildungsmonopols« sprachen, war ihnen manchmal Auftrag und manchmal egal. Ein Teil von ihnen nahm sich das Recht, die Karriere nicht auf halber Strecke abzubrechen, bloß weil der gewünschte Studienplatz im »Demokratischen Sektor« fehlte. Sie wollten alles. In der Eierschale (Nachtbar im Westteil) tanzen, am Alex das Essen kaufen und am Zoo die Jeans, man lachte über die Ringelsockendiskussion, hatte eine Untermieteradresse in Charlottenburg und schlief bei den Eltern in Adlershof. Trotz der lästigen Kontrollen bei jedem Sektorenwechsel. Diese jungen Leute liefen eher James Dean hinterher als politischen Parteien. Wer die »Kommunisten« auf der einen und die »Ausbeuter« auf der anderen Seite zu oft in den Mund nahm, erntete ihr Misstrauen. Diese halben Entschlüsse, dieses Offenhalten aller Möglichkeiten, sie waren auf beiden Seiten nicht erwünscht ... Was nicht ausschloss, dass sie nach dem Mauerbau wurden, was sie sein sollten: Ost- oder Westberliner.
Die Mauer entstand in einer Nacht, für die meisten vom ersten Stein an undurchlässig. Tränen, hilflose Wut, Verzweiflung, Angst und schließlich auch Tote im Gefolge. Die Panzer der NATO, die laut offizieller Parteiargumentation daran gehindert wurden mit »klingendem Spiel« durchs Brandenburger Tor zu rollen, nun standen sie tatsächlich dort aufgereiht. Und starrten auf ihre östlichen Pendants. Stunden, Tage, Wochen, dann wurde es wieder leiser. Kein westlicher Politiker hat politische Schritte unternommen, um ernsthaft den Rückbau der Mauer zu fordern. Man ging auf beiden Seiten zur Tagesordnung über. Und hatte im Westen bald vergessen, dass es östlich der Elbe etwas gab, was einmal dazu gehörte.
Aber hinter der Mauer gab es auch Hoffnung: Wer sollte den sozialistischen Staat jetzt daran hindern, die Vorzüge des Systems auszuprägen? Demokratie, wie im Namen der Republik versprochen, nach innen zu leben? Die Künste würden blühen, die Bildungsrevolution Früchte tragen, die gesellschaftliche Aneignung des Profits die industrielle Entwicklung vorantreiben.
Tatsächlich verbesserten sich die Lebensverhältnisse. Aber die Hoffnung auf die Entfaltung aller Potenzen schmolz mit jedem Plenum dahin. Nichts von dem, was kurzzeitig versprochen war, wurde umgesetzt. Das Land erstarrte in einheitlichem Grau. Richtig oder falsch war ohne Diskussion festgelegt, ein ungeschickt formulierter Satz wurde von allen Seiten berochen und manchmal auch verfolgt. Wie in der Illegalität wurden Menschen katalogisiert. Es schien, als schriebe die Partei- und Staatsführung die eigenen Erfahrungen der zwanziger und dreißiger Jahre einfach fort. Wer da nicht anecken wollte, entschied sich für ein gedämpftes Einerlei, sicherte sich seinen kleinen Wohlstand. Die jährliche Urlaubsreise an die Ostsee oder nach Thüringen und manchmal bis ans Schwarze Meer, die Datsche und den nun wirklich nicht zu verachtenden Arbeitsplatz.
Im Schatten der Mauer trübte sich der Blick auf die Moderne. Der Abstand schien hoffnungslos groß. Reformen wurden manchmal angedacht und wieder abgeblasen, Veränderungen bedeuteten Gefährdung. Das Politbüro umgriff »sein« Land wie ein absoluter Monarch, der über einen Kindergarten herrschte. Man hätte es ahnen können, hätte man gewusst, wie die Disziplinierung der Parteispitze in den dreißiger und vierziger Jahren verlaufen war. Die meisten nahmen den XX. Parteitag der KPdSU aber als Zeichen für Selbstreinigungskraft, auch wenn sie ob der enthüllten Verbrechen verkrampft schluckten. Erst allmählich wurde deutlich, dass jeweils nur eine Wäsche und nur am Ende einer Politkarriere vorgesehen war. Und dass dieses Dogma in gleicher Weise für alle regierenden Kommunistischen Parteien galt. (Nur der Kommunistischen?) Die Mauer, die den Geist befreien und den Sturm auf die Höhen der Wissenschaft gewinnen helfen sollte, begünstigte viertel- oder halbe oder ganze Denkverbote - bis einige ausreisten und viele resigniert aufsteckten. Endlose Rotationen um sich selbst hatten die Ideale herausgeschleudert. Brigitte Reimann begrub sie in ihrem unvollendet gebliebenen Roman Franziska Linkerhand.
Hinter der Mauer hatte der regierende Kleingeist seine faktisch unumschränkte Macht mit ökonomischer Beschränktheit und moralischem Hochmut gepaart, der jede Witterung drohenden Umsturzes ausschloss. Aus der Kluft zwischen Können und Dürfen und großen Worten entwich jahrelang ein Gas, das schließlich die Fundamente dieses untauglichen, aber fest gefügten Bauwerks angriff. 28 Jahre Mauer hatten die bestehende Dynastie erhalten. Die sozialistische Idee wird es schwer haben, sich davon zu erholen.
So bleibt der schmale Weg der Vernunft, des Erwachsenwerdens, der Reife des menschlichen Bewußtseins, der bewußte Schritt aus der Vorgeschichte in die Geschichte. Bleibt der Entschluß, mündig zu werden«. (Christa Wolf in »Lesen und Schreiben«)
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