5.800 Hinrichtungen Zwischen Berlin und Warschau zeichnet sich eine Kontroverse über die Wiedergutmachung für Angehörige von Opfern deutscher "Sondergerichte" ab
Jan Wilda hat polnischen Truppen den Weg zu deutschen Bewohnern gezeigt, die dann erschossen wurden - Ludwik Majchrzak rief öffentlich zur Er mordung von Deutschen auf - so lauteten die Begründungen für Todesurteile des "Sondergerichts Bromberg" im September und November 1939. Sie bezogen sich auf den 3. September 1939, da es in Bromberg (Bydgoszcz) zu einer Massenhysterie gekommen war. Polnische Truppen waren an diesem Tag auf der Flucht vor der deutschen Wehrmacht durch die Stadt gezogen und dabei beschossen wurden.
Bis heute ist ungeklärt, ob die Salven durch einheimische deutsche "Diversanten" und eingeschleuste SS-Mitglieder von Häusern und Kirchtürmen abgefeuert wurden oder ein versehentlich abgegebener Schuss die Lage eskalieren ließ. Auf jeden Fal
jeden Fall entlud sich die Erregung in Ausschreitungen gegen deutschstämmige Bewohner (sechs bis sieben Prozent der Einwohnerschaft in der seit 1920 wieder zu Polen gehörenden Stadt). Es kam zu Misshandlungen und Erschießungen, vorzugsweise durch eine hektisch gegründete polnische Bürgerwehr. Das Geschehen, von der deutschen Presse zum "Bromberger Blutsonntag" erklärt, bot der NS-Propaganda einen willkommenen Anlass, den brutalen Überfall auf Polen zu legitimieren. Der internationalen Öffentlichkeit wurde bedeutet, nur wenn die ehemaligen preußischen Provinzen wieder ins "Reich" eingegliedert seien, könne man die dort ansässigen Volksdeutschen schützen. Ein "Sondergericht Bromberg", das schon am 8. September verhandelte - zwei Tage nach Einnahme der Stadt - urteilte somit nach "deutschem Recht" und auf "deutschem Boden", obwohl Polen noch nicht kapituliert hatte. Schon am 13. September 1939 wurden die ersten Todesurteile vollstreckt."Eine Panzertruppe der Rechtspflege" nannte sie FreislerSondergerichte galt im Nazistaat als Tribunale, die bei einem eingeschränkten Beweisrecht und einer Aufhebung des Berufungs- und Revisionsrechts den Mythos einer hart und schnell durchgreifenden Justiz nähren sollten - eine "Panzertruppe der Rechtspflege", wie sie von Roland Freisler (*) genannt wurde. Bis 1939 entsprach das nicht unbedingt der Wirklichkeit, denn das Sondergericht in Frankfurt/M. beispielsweise verhängte bis dahin nur ein einziges Todesurteil, da der Volksgerichtshof alle maßgeblichen politischen Fälle an sich zog. Das änderte sich mit Ausbruch des Krieges. Aus einem "Führererlass" vom 8. Oktober 1939 geht hervor, dass in den okkupierten Gebieten Polens Reichsrecht anzuwenden und stets im Sinne eines deutschen Aufbaus der Ostgebiete zu richten war. Das hieß, gegebenenfalls sollte "frei" entschieden werden: ein Aufruf zur Rechtsbeugung.Um die "Septembertäter" in Bromberg abzustrafen, wurde von einem extrem geweiteten Mittäter-Begriff ausgegangen. Schon für das Singen patriotischer Lieder während der Ereignisse konnte eine Schuld an der Ermordung der Volksdeutschen festgestellt werden. Bis Ende 1939 waren so drei Fünftel der Richtersprüche Todesurteile, insgesamt wurden 348 Hinrichtungen veranlasst. Volksdeutsche nutzten diese Willkür, um Unschuldige zu denunzieren und alte Rechnungen zu begleichen: Der eingangs erwähnte Jan Wilda hatte Bromberg schon am 1. September verlassen und war erst am 6. September zurückgekehrt, also eindeutig nach dem 3. September. Ludwik Majchrzak hatte der Verhaftung von zwei Volksdeutschen nur zugesehen, doch vor Gericht wurde allein deutschen Zeugen geglaubt.Ludwika Krzyzaniak und Zygmunt Wilda haben sich als Nachkommen der beiden Hingerichteten mittlerweile in Deutschland erfolgreich um eine Rehabilitierung ihrer Väter bemüht, nachdem 1998 ein NS-Aufhebungsgesetz erlassen wurde, das Gerichtsbeschlüsse annulliert, die gegen "elementare Gedanken der Gerechtigkeit" verstoßen haben.Auf dieser Rechtsgrundlage wurden inzwischen Hinterbliebene von Verteidigern der Danziger Post (**) rehabilitiert und entschädigt. Ein entsprechender Beschluss des Landgerichts Lübeck im Jahr 2000 löste in Polen ein beachtliches Medienecho aus. Die auflagenstarke Gazeta Wyborza erinnerte nun Anfang Februar 2003 an diese Entscheidung, um sie als Präzedenzfall für weitere Zahlungen an die Angehörigen von zum Tode Verurteilten zu werten. Die Zeitung "Rzeczpospolita" zitiert Stuart EizenstatEtwa 5.800 Personen sind zwischen 1939 und 1945 in Polen nach Sondergerichtsurteilen exekutiert worden, allerdings lassen sich heute vielfach keinerlei Prozessakten mehr auffinden. Eine generelle Aufhebung der Sondergerichtsurteile ist daher kaum möglich, so dass die Hinterbliebenen der Opfer jeweils Einzelanträge an den Bundesgerichtshof stellen müssen. Bei der Suche nach Beweisen für eine ungerechtfertigte Verurteilung helfen das polnische Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) sowie der Kölner Rechtsanwalt Andrzej Remin, der bereits ehemalige Zwangsarbeiter vertreten hat.Remin kritisiert das jetzige Verfahren als "Rehabiltierung zweiter Klasse" und nennt es nicht rechtskonform. Die Staatsanwaltschaften von Landgerichten befassten sich mit der Aufhebung von Sondergerichtsurteilen - ein Gerichtsurteil könne jedoch nur von einem Gericht wieder aufgehoben werden, nicht von einer untergeordneten Instanz wie einer Staatsanwaltschaft. Noch, so Remin, würden Anträge auf Entschädigung erwartet, die Gesamtzahl der Klagen lasse sich daher kaum abschätzen.Die Bundesregierung hält sich bislang bedeckt, im Bundesgerichtshof sei noch kein Antrag auf Entschädigung eingegangen, heißt es. Außerdem fehle für weitere Entschädigungen die Rechtsgrundlage, argumentiert das Bundesfinanzministerium: der Reparationsverzicht, den Polen 1953 mit der DDR und der BRD vereinbart habe, beziehe sich auch auf Ansprüche, die mit Hinrichtungen verbunden seien. Remin hält dagegen, dass es um die nachträgliche Aufhebung schweren Unrechts gehe, das Einzelne erfahren hätten. Deren Ansprüche könnten nicht durch ein Reparationsgesetz zwischen Staaten gegenstandslos werden.Dass der deutsche Finanzminister bei den Hinterbliebenen der Danziger Post seinerzeit einlenkte - die Entschädigung (Witwen 10.000 DM, direkte Nachkommen 5.000 DM) kam als außergerichtliche Einigung zustande - ist wahrscheinlich dem prominenten Unterstützer Günther Grass zu danken, der die Verteidigung der Post in seinem Roman Die Blechtrommel beschrieb, und dem ehemaligen Kriminaldirektor Dieter Schenk, der den deutschen Justizmord in seiner akribisch recherchierten Dokumentation Die Post von Danzig (1995) aufrollte.Weitere Zahlungen, heißt es in Berlin, seien nicht vorgesehen. "Vorgesehen" ist damit aber vermutlich eine nochmalige deutsch-polnische Kontroverse über finanzielle Wiedergutmachung - eine wenig erfreuliche Aussicht. Darauf deuten nicht zuletzt Äußerungen des ehemaligen amerikanischen Unterhändlers Stuart Eizenstat hin, der in seinen Erinnerungen Unvollkommene Gerechtigkeit der deutschen Seite mangelndes Verständnis attestiert, wenn es um Nicht-Holocaust-Opfer gehe. Während der Verhandlungen über die Entschädigung polnische Zwangsarbeiter sei 1999 gar der Vorschlag gekommen, Polen solle doch Immobilien aus den einstigen deutschen Ostgebieten veräußern, um die Zwangsarbeiter abzufinden. Eizenstat sagt weiter, Deutschland habe in der Entschädigungsfrage nur eingelenkt, um in Polen einem durch Neid bedingten Antisemitismus vorzubeugen - eine These, die von der konservativ-liberalen Zeitung Rzeczpospolita im Februar auf der ersten Seite gedruckt wurde. Ein denkbar schlechter Auftakt für mögliche Verhandlungen.(*) Ab 1934 Staatssekretär im Reichsjustizministerium, von 1942 bis 1945 Präsident des Volksgerichtshofes.(**) Am 1. September 1939 hatten die Beamten der polnischen Post in Danzig gegen die deutschen Angreifer erbitterten Widerstand geleistet. Von den 40 Überlebenden wurden 38 von der deutschen Justiz als "Freischärler" angeklagt und von einem Feldgericht zum Tode verurteilt. Ihre Erschießung fand am 5. Oktober 1939 bei Danzig statt.
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