Ein neuer Ökonom macht von sich reden, und er gehört nicht der politischen Rechten an. Wer zum Beispiel neulich an der Konferenz über neues ökonomisches Denken in Toronto teilnahm, wurde Zeuge, wie der Name Thomas Piketty und sein Buch Capital in the Twenty-First Century in jedem Vortrag mindestens einmal erwähnt wurden. Der bist dato unbekannte französische Volkswirt wird sogar von den Nobelpreisträgern Paul Krugman und Joseph Stiglitz gelobt.
Man muss schon in die 1970er und zu Milton Friedman zurückgehen, um einen Wirtschaftswissenschaftler zu finden, der einen ähnlichen Einfluss ausübte. Wie Friedman ist auch Piketty ein Kind seiner Zeit. An die Stelle der Inflationsangst ist heute die Angst getreten, dass der Einfluss der Superreichen auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft zu groß geworden ist. Piketty zweifelt nicht daran, dass die steigende Ungleichheit der Vermögen ein Ausmaß erreicht hat, das die Zukunft des Kapitalismus selbst bedroht. Er will das sogar beweisen können.
Der Matthäus-Effekt
Seine These dürfte denen missfallen, die glauben, eine erfolgreiche Produktionsweise setzte die Ungleichheit der Lebens- und Einkommensverhältnisse geradezu voraus. Der Kapitalismus brauche die ungleiche Verteilung des Reichtums als Anreiz, nur so würden Risiken eingegangen und persönliche Anstrengung unternommen, lautet das wirtschaftsliberale Credo. Wenn der Staat versuche, den freien Markt durch zu hohe Steuern auf Vermögen, Kapital, Erbschaften und Eigentum zu regulieren, töte er die Gans, die die goldenen Eier legt.
Piketty ist Empiriker, anhand von Wirtschaftsdaten und Steuerlisten aus den letzten 200 Jahren will er belegen, dass der Reichtum der Anderen weniger Anreiz, als mehr ein Problem geworden ist. Das Kapital, sagt er, ist blind. Sobald die Rendite – in Form jeglicher Art von Reinvestitionen, sei es in Mietwohnungen oder Fabriken – das Realwachstum von Löhnen und Produktion übersteigt, wächst das Kapital schneller als die Wirtschaft. So war es in der Geschichte, bis auf wenige Phasen, zum Beispiel zwischen 1910 und 1940, stets der Fall. Die Ungleichheit der Vermögen steigt dann exponentiell.
Dieser Prozess wird durch Erbschaften und grotesk überbezahlte „Super-Manager“, vor allem in den USA und Großbritannien, weiter verschärft. (Immerhin: In Kerneuropa und Japan fallen die Spitzengehälter wesentlich geringer aus.) Pikettys Denken ist geleitet von der Erkenntnis, dass solche Vermögensunterschiede zwar dem Kapitalismus innewohnen, aber kein Naturgesetz darstellen. Eine Gesellschaft kann sie hinnehmen oder gegen sie vorgehen.
Die Ungleichheit der Vermögen ist in Europa und den USA ungefähr doppelt so groß wie die Ungleichheit der Einkommen: Die reichsten zehn Prozent besitzen zwischen 60 und 70 Prozent des Gesamtvermögens, aber nur 25 bis 35 Prozent der Gesamteinkommen. Diese Konzentration des Reichtums existierte allerdings bereits vor dem Ersten Weltkrieg und geht bis ins späte 19. Jahrhundert zurück, ein Erbe antreten zu können stellte das dominierende Element im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben dar.
Zwischen Vermögen und Einkommen besteht eine ständige Wechselbeziehung: Ein großes Vermögen sorgt dafür, dass verdientes Einkommen durch unverdientes Kapitaleinkommen ergänzt wird; die Spirale der Ungleichheit wird weiter angeheizt. Dass Pikettys Buch gerade in den USA einschlagen konnte wie eine Bombe, liegt bestimmt daran, dass es den meritokratischen Mythos („Nur die Leistung zählt“, „Jeder kann es vom Tellerwäscher zum Millionär bringen“) gründlich zerstört und vielmehr den Matthäus-Effekt stark macht: Wer hat, dem wird gegeben.
Die Verschwendungssucht und die enormen sozialen Spannungen des edwardianischen Englands, des Frankreichs der Belle Époque und des Amerikas der robber barons schienen für immer der Vergangenheit anzugehören. Doch Piketty zeigt, dass die Phase zwischen 1910 und 1950, in der die Ungleichheit verringert wurde, eine Ausnahme darstellt. Krieg und Depression setzten die Dynamik der Ungleichheit wieder in Gang und brachten gleichzeitig die Einsicht in die Notwendigkeit, hohe Einkommen, und insbesondere Einkommen aus Vermögen, auch hoch zu besteuern, um den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten. Heute ist der Prozess des blinden Kapitals, das sich in immer weniger Händen immer schneller vermehrt, wieder im globalen Maßstab in Gang. Mit möglicherweise fatalen Folgen, wie Piketty schreibt.
Es fängt damit an, dass mit Ausnahme von ein, zwei spektakulären Silicon-Valley-Startups fast kein neuer Unternehmer mehr so viel Kapital akkumulieren kann, dass die unglaubliche Konzentration des bereits bestehenden Reichtums in Frage gestellt würde. In diesem Sinne „verschlingt die Vergangenheit die Zukunft“. Bezeichnenderweise sind der Duke of Westminster und der Earl of Cadogan zwei der reichsten Männer Britanniens. Sie verdanken ihren Reichtum allein den Feldern in Mayfair and Chelsea, die ihre Familien vor Jahrhunderten besaßen und dem Unwillen, die Schlupflöcher zu schließen, die Familienvermögen immer weiter anwachsen lassen.
Zins und Zinseszinsen
Jeder, der Vermögenswerte in Branchen besitzt, in denen die Renditen über dem Wirtschaftswachstum liegen, wird schnell reich und immer reicher. Der Anreiz ist größer, von Zinsen und Einnahmen zu leben, als ein Risiko einzugehen. Man muss sich nur einmal die explosionsartige Zunahme von Mieteigentum ansehen. Unsere Unternehmen und unsere Reichen müssen keine Innovationen fördern. Sie müssen nicht einmal investieren: Alles, was sie tun müssen, ist, ihre Erträge und Steuererleichterungen einzustreichen. Steueroasen und der Zinseszins erledigen dann den Rest. Die kapitalistische Dynamik wird untergraben. Andere Kräfte verstärken diesen Effekt zusätzlich: Piketty zeigt auf, wie einfach es für die Reichen ist, ihre Vermögen der Besteuerung zu entziehen, und betont, dass der Anteil am gesamten Steueraufkommen, der von den mittleren Einkommen getragen wird, immer weiter ansteigt. Selbst wenn es stimmt, dass in Großbritannien die obersten ein Prozent ein Drittel der gesamten Einkommenssteuer zahlen, so macht die Einkommenssteuer doch lediglich 25 Prozent aller Steuereinnahmen aus: 45 Prozent stammen aus Mehrwertsteuer, Verbrauchssteuern und Versicherungsleistungen, die von der breiten Masse bezahlt werden.
Es ist also der Durchschnittssteuerzahler, der immer stärker für die Aufrechterhaltung öffentlicher Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit und Wohnungsbau aufkommen muss. Die Ungleichheit der Vermögen führt so zu einer ins Stocken geratenden, innovationsfeindlichen Renten-Ökonomie, zu härteren Arbeitsbedingungen und zu einer Verschlechterung des öffentlichen Dienstes. Den Reichen kann das egal sein, sie entfernen sich immer weiter vom Rest der Gesellschaft: aber eben nicht durch Verdienste oder harte Arbeit, sondern schlicht aufgrund der Tatsache, dass sie über Kapital verfügen, das langfristig mehr Rendite abwirft als die Löhne.
Die Geschichte zeigt, dass in Not geratene Gesellschaften sich zu schützen versuchen: Sie schließen ihre Grenzen, es kommt zu Revolutionen – oder zum Krieg. Piketty fürchtet, das könnte sich wiederholen. Seine Kritiker halten ihm entgegen, dass die Abneigung gegenüber den Superreichen bei einem höheren Lebensstandard der Gesamtbevölkerung zurückgehen werde – und sie suchen nach fehlerhaften Daten und falschen Informationen. Bislang allerdings ohne Erfolg. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Menschen ihren angeborenen Gerechtigkeitssinn verloren haben. Natürlich prägt er sich ganz unterschiedlich aus. So kann es gut sein, dass sich etwa der wachsende schottische Nationalismus aus dem Wunsch speist, ein Land aufzubauen, in dem der Reichtum nicht ganz so ungleich verteilt ist wie in England.
Piketty schlägt rabitate Lösungen vor: einem Spitzensteuersatz von bis zu 80 Prozent, eine wirkungsvolle Erbschaftssteuer, und eine globale Vermögenssteuer. Das ist gegenwärtig unvorstellbar. Doch besteht die Aufgabe der Ökonomen Piketty zufolge darin, diese Maßnahmen weiter in den Bereich des Vorstellbaren zu rücken. Sein Buch leistet dazu ohne Zweifel einen wichtigen Beitrag.
Capital in the Twenty-First Century Thomas Piketty Havard University Press 2014, 696 S., 35 €
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