Reiner Aktionismus

Israel Die Regierungskrise offenbart den Zustand eines maroden politischen Systems, das immer autoritärer, nationalistischer und rassistischer geworden ist
Ausgabe 23/2019
Einst Türsteher, jetzt Außenminister: Avigdor Liebermann
Einst Türsteher, jetzt Außenminister: Avigdor Liebermann

Foto: Jack Guez/AFP/Getty Images

Groß war die Verblüffung, als Benjamin Netanjahu am 29. Mai mit erschütterter Miene plötzlich die Knesset auflöste und Neuwahlen für den 17. September ankündigte. Hatte der Premierminister doch erst vor sieben Wochen großspurig seinen Wahlsieg gefeiert! Nach einem heißen Wahlkampf, der keine zynische Hässlichkeit ausließ, fühlte sich Netanjahu am 9. April für eine fünfte Amtszeit bestätigt: Der Likud gewann im Block mit rechten und ultraorthodoxen Parteien die Mehrheit der Mandate. Und nun dieses Fiasko, ein Novum in der 71-jährigen Geschichte Israels. Netanjahus Busenfreund Donald Trump zeigte sich persönlich beleidigt: „Das ist ja lächerlich, wir sind darüber nicht glücklich.“

Dass Netanjahu keine Koalition zustande brachte, verdankt er allein Avigdor Lieberman, Vorsitzender von „Unser Haus“, einer Partei, die ältere, säkulare Israelis aus der Ex-Sowjetunion vertritt. Sie hatte mit fünf Knesset-Sitzen scheinbar nicht mehr viel zu melden. Doch ist Lieberman unberechenbar und versteht sich auf Machtspiele. Vom Türsteher vor Nachtclubs zum zeitweiligen Außenminister aufgestiegen, spielte er das Zünglein an der Waage. Er erhob eine Gesetzesnovelle, die ultraorthodoxe Männer zum Wehrdienst verpflichtet hätte, zur Schicksalsfrage der Regierungsbildung und bestand auf wortgetreuer Umsetzung des Entwurfs, wohl wissend, dass eine Likud-Regierung von der Gunst der Ultraorthodoxen abhängig war, die junge Religiöse weiter vom Wehrdienst befreit sehen wollen. Netanjahu versuchte bis zum Schluss – selbst in der Opposition –, andere Partner zu finden. Labour-Chef Avi Gabbay, dessen Partei in die Bedeutungslosigkeit gerutscht ist, bot er das Finanzministerium an. Ayman Odeh, Kopf der kommunistischen, arabisch-jüdischen Partei Hadash, soll er sogar damit gelockt haben, das umstrittene Nationalstaatsgesetz zurückzunehmen, das Israelis palästinensischer Herkunft benachteiligt.

Derartige Anbiederung zeugt von verzweifeltem Aktionismus. Netanjahus dringlichstes Motiv dürfte gewesen sein, die laufende Strafverfolgung wegen Korruption und Betrugs gegen sich abzuwenden. Dazu waren bereits zwei Gesetzesvorlagen in Arbeit, die allen Knesset-Mitgliedern Immunität gegen Korruptionsanklagen verschafft und die Machtbefugnisse des Verfassungsgerichts beschränkt hätten. Es ist zwar wahrscheinlich, dass der jetzige Premier im Herbst erneut als Regierungschef gewählt wird – die Mehrheit hat sich auf ihn und sein System eingerichtet –, doch er wird das Immunitätsgesetz kaum rechtzeitig durchbringen können, um sich zu schützen. Seine Anhörung, die auf Oktober verschoben ist, könnte seiner erstaunlichen Karriere ein jähes Ende setzen.

Diese Regierungskrise offenbart den Zustand eines maroden politischen Systems, das sich demokratisch nennt, aber immer autoritärer, nationalistischer und rassistischer geworden ist. Sie wird die Wähler auch finanziell nicht verschonen. Lieberman hat den Stein ins Rollen gebracht, verkörpert aber gewiss keine Hoffnung auf einen Neuanfang. Viel hängt nun davon ab, ob die Opposition zionistischer und arabischer Parteien die Zeit bis zur Wahl konstruktiv nutzen kann, um sich neu zu formieren, die politischen Spaltungen einzudämmen und frische Bündnisse einzugehen. Bis dahin sind Israels Institutionen lahmgelegt und Entscheidungen aufgeschoben. Auch der wiederholt angekündigte, aber stets verschobene US-Friedensplan für die Region ist auf Eis gelegt.

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