Reise in die Selbstzerstörung

Unsentimental Die Heldin von Natasha Radojcics Debütroman "Du musst hier nicht leben" will nicht nach Jugoslawien zurück

Wer ist das eigentlich auf dem Schutzumschlag? Dieses mittelblonde, goldfarbene Mädchengesicht? Die Ich-Erzählerin kann nicht gemeint sein, denn die beschreibt sich als unverkennbaren Abkömmling eines Halbzigeuners, der ihr soviel tiefbraunen Teint und schwarzes Haar vererbt hat, dass Alexandra - "Sascha" - von fahrenden Händlern manchmal als "eine von uns" begrüßt wird. Für Sascha ist das nur die Bestätigung ihrer allgemeinen Lebenslage als Außenseiterin: Sie ist ein geborener rebel without a cause. "Ich bin fast fünfzehn. Ich bin ausgerissen, und Ausreißerkinder müssen vom Spezialisten untersucht werden. Der Polizist, der mich hergebracht hat, hat gefragt, warum ich weggerannt bin. Ich weiß nicht, habe ich gesagt. Ich wollte einfach nicht nach Hause."

So stellt sich Sascha auf der ersten Seite des Romans vor, aber schon der folgende Satz weitet die Perspektive auf das Land, in dem dieses Verweigerer-Schicksal seinen Anfang nimmt: "Ich saß am Bahnhof unter dem hin und her schwingenden Metallschild Gleis 8 und beobachtete die Soldaten, wie sie durch den Dampf liefen mit ihren großen Taschen voller Versprechen für unser Land Jugoslawien." So ist dieses Buch: unsentimental durch und durch.

Und der scharfe Rhythmus, der einen von der ersten Seite an mitnimmt, lässt nicht nach, Schlag auf Schlag fallen die Sätze, großartig formulierte Sätze manchmal, sie erzählen auf kompromisslose Art die Geschichte eines kompromisslosen Mädchens auf der Reise in die Selbstzerstörung. Sascha verlässt, wie so viele (aber gewöhnlich männliche) literarische und filmische Vorgänger das privilegierte Nest, dessen Gemeinheit und Falschheit sie aber nicht wissend beklagt, sondern beiläufig-untergründig in den Strom der Erzählung einfließen lässt. Diese Geschichte ist im Präsens der jugendlichen Wahrnehmung geschrieben; Sascha erlebt, aber sie interpretiert nicht.

Sie erlebt das sozialistische Pendant einer gutbürgerlichen Kindheit, als Nichte eines Parteioberen, als Tochter einer überaus schönen Mutter, die auch einmal Fidel Castro bezaubert, in Kuba, wo der Onkel jugoslawischer Botschafter ist. Hier erfährt Sascha, dass eine Europäerin und Angehörige der Nomenklatura in Castros kommunistischem Inselreich was sehr viel Besseres ist als alles, was vor der Botschaftstür herumläuft. Also lässt sie sich mit einem schokoladebraunen Angestellten ein - nicht ihre erste unstandesgemäße Schandtat. Wohin immer ihre Familie sie schickt, um die "Schande" zu kaschieren - Sascha, die schon als Kind den Annäherungen ihres Cousins ausgesetzt war, bringt mit immer neuen sexuellen Abenteuern immer neue "Schande".

Sie tut das nicht ganz wahllos. In Kuba tut sie es mit dem Schokoladebraunen, in Bosnien mit dem kleinen Polizisten, in Griechenland mit dem schwarzen GI. Alles Männer mit der falschen Brieftasche, der falschen Hautfarbe, der falschen Religion. Überhaupt geht es deprimierend oft um das Gefälle zwischen blond und dunkel, schwarz und weiß, muslimisch, christlich oder jüdisch. "Was willst Du in Amerika, bei den Juden und Protestanten?" wird Sascha von der erschreckend rückständigen Verwandtschaft gefragt. Hier klingt nicht mal mehr ein Rest von Sehnsucht an nach einer vergangenen multikulturellen jugoslawischen Welt - Natasha Radojcic unterstellt dieser Welt unbefangenen Rassismus und uralten, nie bearbeiteten Hass.

Sicher überspitzt sie, das ist ihr Privileg als harte jugendliche Dissidentin und Nachfahrin von James Dean und William S. Burroughs. Vor allem schreibt sie Literatur: findet also Worte für Tatbestände, kurz und knapp, originell und treffend und noch nicht dagewesen. Diese junge Lady ist ein Punk, mit allem Schmerz und allen Gefühlssehnsüchten eines Punk, was die Geschichte bald ins Drogenmilieu hineinbewegt; erst in New York, der letzten Station des - sozialpädagogisch gesprochen - nicht integrierbaren Mädchens, deutet sich eine Wende an: Am Ende verlässt Sascha ihren Drogenfreund, ihren Sexshop-Job und den altruistischen Großdealer, der ihr zu diesem Schritt die Kraft gibt. "Du musst hier nicht leben", das nicht. Aber irgendwo muss man ja doch leben.

Natasha Radojcic: Du musst hier nicht leben. Roman. Aus dem Englischen von Friedrike Meltendorf. Berlin, Berlin 2006, 208 S., 19,90 EUR


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