Reise in die Zukunft

Flüchtlinge Verglichen mit dem, was auf dem Spiel steht, sind die Anstrengungen der Nationalstaaten geradezu lächerlich
Ausgabe 32/2015
Migranten in Calais auf dem Weg in Richtung Großbritannien
Migranten in Calais auf dem Weg in Richtung Großbritannien

Foto: Rob Stothard/Getty Images

Der Bus fährt von Berlin ab, sein Ziel ist irgendwo an der Südküste von England. Im Bus sitzen Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren. Sie fahren in die Ferien. Die Eltern gehören kaum zu den Reichen in Deutschland. Kinder von Reichen würden das Flugzeug nehmen. Die Jugendlichen im Bus nähern sich Calais. Was sie dort sehen, bevor sie in den Tunnel einfahren, kennen etliche von ihnen aus den Nachrichtensendungen des Fernsehens oder aus den Tageszeitungen. Jetzt und hier ist das alles Wirklichkeit. Sie fahren durch mit Urlaubsgepäck, die da draußen bleiben, wo sie sind und wo sie nicht bleiben können. Auf der Rückfahrt werden sie wieder vorbeikommen. Sie fahren dann nach Hause. Sie waren nur in Europa unterwegs. Die anderen dürfen das nicht.

Das sind zwei Weisen der condition humaine, wie sie krasser nicht von einander geschieden sein könnten. Was wird sich davon den Kindern einprägen? Was wird ihnen zur Erinnerung an diese Bilder kommen, wenn sie daheim in Berlin oder anderswo nun aufmerksamer zuhören, wenn von den Flüchtlingen die Rede ist? Wenn sie den Streit mitbekommen über Bürgerkriegsflüchtlinge und Armutsflüchtlinge; über solche, die hierbleiben dürfen, demnächst in gigantischen Zeltstädten und Containerburgen, und solchen, die rasch zurückgeschickt werden sollen? Die Wirtschaft, erfahren sie, fordert ein Einwanderungsgesetz. Das wäre schön: für die Wirtschaft, die Arbeitskräfte braucht, und für diejenigen, die dafür in Frage kommen. Aber was hat das mit den Zehntausenden zu tun, die unablässig übers Mittelmeer kommen, was mit den Hunderttausenden, die in der Türkei und im Libanon in Lagern sitzen? Die Jugendlichen, mit den Bildern aus Calais im Kopf, werden auf Diskussionen warten, in denen die ganze Dimension des Flüchtlingsdramas ernst genommen wird.

Was Europa derzeit in den Anfängen erlebt, ist der Beginn eines Geschehens, welches das Gesicht der nächsten Jahrzehnte bestimmen wird. Noch ist nicht absehbar, wohin Europa da gehen wird. Und wie Europa in einigen Jahrzehnten aussehen wird. Verglichen mit dem, was da auf dem Spiel steht, sind die politischen Auseinandersetzungen in den Nationalstaaten über die anstehenden Schwierigkeiten lächerlich. Die Presse reagiert nur auf die Töne, die von den Politikern kommen. Die Politiker reagieren nur auf die Presse. Was die Jugendlichen in dem Bus aus Berlin gesehen haben mögen, ist von anderem Gewicht. Es wird Zeit, über die Sache zu reden und nicht nur über Ansichten vom Gerede. Es ist Zeit, an angemessenes Handeln zu denken.

Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft

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