Reise ohne Wiederkehr

Serbische Flüchtlinge Für viele ist Ungarn nur eine Durchgangsstation auf dem langen Marsch nach Westen

Stojan Vujicic hat allen Grund, traurig zu sein. Der 70jährige serbische Schriftsteller, dessen langer Bart an Solschenizyn erinnert, lebt seit seiner Kindheit in Budapest. Er ist einer von 10.000 Mitgliedern der serbischen Minderheit in Ungarn - Enkel und Urenkel serbischer Flüchtlinge, die hier im 17. Jahrhundert Aufnahme fanden und als Gemeinschaft bis heute überlebt haben. Und mehr als nur das. Vujicic ist Vizepräsident des magyarischen PEN-Clubs und in Ungarn genauso gut bekannt wie in Serbien. Die größte serbische Wochenzeitung nannte ihn eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der serbischen Diaspora. Vujicic war immer stolz darauf sagen zu können, daß er zwei Vaterländer habe. Seitdem die Bomben fallen, verwandelt sich sein Reichtum in einen Alptraum.

Unzählige serbische Flüchtlinge, haben in den letzten Wochen an Stojan Vujicics Tür geklopft, und er - wie viele andere Nachkommen der Flüchtlinge von einst auch - helfen, so gut sie können. Die vielen Geschichten über menschliche Tragödien schmerzen und geben dem Dichter das Gefühl, daß sein zweites Heimatland Serbien stirbt. »Bisher hatte ich in Ungarn nie das Gefühl, im Ausland zu sein. Doch jetzt, da meine zweite Heimat stirbt, werde auch ich ein Flüchtling. Nicht ich gehe, sondern mein Vaterland verläßt mich.«

Und so wird Vujicic Teil des serbischen Flüchtlingsstroms, der nicht der größte, wohl aber einer der folgenreichsten in der serbischen Geschichte ist. »Diese neuen serbischen Emigranten sind für ihr Land praktisch verloren«, sagt er. »In Kanada oder Australien werden sie nur in ihrer nostalgischen Erinnerung Serben bleiben, und schon die zweite Generation wird sich linguistisch assimiliert haben.« Nein, Stojan Vujicic glaubt nicht daran, daß die Mehrzahl der nach Ungarn geflohenen Serben je zurückkehren wird. Noch schlimmer aber ist, daß es sich hier um die intellektuelle Elite des Landes handelt.

Vujicic schätzt, daß es gegenwärtig über 50.000 jugoslawische Emigranten in Budapest gibt, mehr als irgendwo sonst. Die offiziellen Angaben liegen bei 5.000, sind jedoch viel zu niedrig angesetzt. Denn nur die wenigsten lassen sich offiziell als Flüchtling registrieren. »Und von denen sind die meisten Kosovo-Albaner«, sagt Vujicic. »Die Serben finden andere Wege zu überleben« Ganz offensichtlich rekrutiert sich die erste Flüchtlingswelle vor allem aus der serbischen Mittelklasse. Leute mit Geld, oft die Erlöse hastiger Veräußerungen in den letzten Tagen vor der Flucht. Die meisten Serben kommen für sich selbst auf. Sie könnten kostenlos Essen und Unterkunft bekommen, wenn sie sich als Flüchtlinge registrieren ließen. Doch das macht kaum einer. »Ja, man bekommt freie Kost und Logis, aber dafür muß man in ein Lager mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit«, sagt Milos aus Belgrad, der sich schon nach kurzer Zeit eine eigene Geldquelle erschlossen hat. Milos schmuggelt Havanna-Zigarren von Kuba nach Ungarn und verdient dabei soviel, daß er sich ein kleines Hotel leisten kann. Einer seiner Freunde bezieht billige Kleidung aus Thailand. Beide haben ihren Job in einer der mehr als 2.000 Firmen gefunden, die Serben in Ungarn während des Handelsembargos gegen Jugoslawien eröffnet haben - damals der einzige Weg, den Handel mit Serbien aufrechtzuerhalten. Klar, daß die meisten dieser Firmen im Schmuggelgeschäft tätig sind.

Nur wenige Flüchtlinge finden dauerhafte Arbeit. Für die Mehrzahl ist das Leben in Budapest sehr teuer, obwohl Lebensmittel nicht so viel kosten wie mittlerweile in Serbien. Um zu sparen, mieten Freunde gemeinsam Wohnungen an. Die sind eigenartigerweise in Budapest immer noch billiger als in Belgrad. Allein, die Lebenshaltungskosten sind kein ausschlaggebender Grund für ihre Flucht nach Ungarn. In Rumänien oder Bulgarien könnte man wesentlich billiger leben, und doch geht da fast keiner hin. Warum also ziehen Serben die Flucht in das benachbarte NATO-Land vor, wo sie doch - allen Meinungsumfragen zufolge - mit weniger Sympathie rechnen dürfen als in den orthodoxen Anrainerstaaten Bulgarien und Rumänien?

Die Antwort ist einfach: Solche Meinungsumfragen geben nur ein unvollständiges Bild wieder. Die Ungarn sind nicht anti-serbisch eingestellt. Und den meisten Serben begegnet in Budapest nicht Ablehnung, sondern Mitgefühl und Hilfe. »Die Ungarn sind freundlich zu uns. Das gilt für die Leute und für die Regierung.«, sagt Stojan Cerovic, Direktor und Verlagsleiter der oppositionellen Belgrader Wochenzeitung Vreme. Das ungarische Bildungsministerium ist zum Beispiel im Moment dabei, die Aufnahmebedingungen für serbische Studenten an hiesigen Universitäten zu lockern. Bald soll es für Serben auch leichter werden, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. »Dafür sind wir Ungarn sehr dankbar«. Cerovic selbst ging nicht nur aus diesen Gründen nach Budapest, sondern auch, weil seine Frau eine Ungarin aus der Vojvodina ist.

Ganz ähnlich geht es dem serbischen Schriftsteller Dragan Velikic. Seine Frau ist Dozentin an der Budapester Zentraleuropa-Universität. Hier unterrichten und studieren mehr serbische Professoren beziehungsweise Studenten als an jeder anderen Uni außerhalb Jugoslawiens. Kein Wunder also, daß Central European University Treffpunkt für serbische Intellektuelle wurde. Velikic glaubt jedoch, daß Budapest nur der Ausgangspunkt auf dem langen Marsch nach Westen ist. Für die meisten Serben bleibt es eine Übergangsstation.

»Die sind hier nur physisch anwesend, nicht geistig. Mit ihren Gedanken sind sie noch zu Hause und schauen den ganzen Tag lang Nachrichten.« In Ungarn würde er sich nicht für länger einrichten. Sein Arbeitsmittel ist die Sprache, und er versteht kein Ungarisch. Velikic glaubt auch nicht an eine wie auch immer geartete kulturelle Nähe zwischen Ungarn und Serben. »In Budapest lebt es sich wie in Wien. Die kosmopolitische Atmosphäre ist in beiden Städten gleich.«

Stojan Vujicic, der seine Ungarn besser und länger kennt als die eben Angekommenen, weiß um die vorsichtige Haltung der meisten gegenüber Serbien. Man will - mit Blick auf die 300.000 Personen zählende ungarische Minderheit in der Vojvodina - keine unnötigen Spannungen. »Wir haben keinen Konflikt mit Serbien, sondern mit dem anachronistischen Regime dort und dessen verlogenem Anspruch, für die serbische Nation zu sprechen.«

Nur wenige Flüchtlinge erzählen bereitwillig, wie sie nach Ungarn kamen. Immerhin sind die jugoslawischen Grenzen für alle Männer zwischen 16 und 60 geschlossen. Petar aus Subotica floh über ein offenes Feld, nachdem er sich vergewissert hatte, daß dort keine Minen sind. Er ging allein, ohne Führer. Der hätte 800 Mark gekostet. Andere schaffen es, die Grenzer zu bestechen. Jovan kam über den serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas und Kroatien nach Budapest. Die meisten fliehen allein. Aber nicht alle. Die jüdische Gemeinde Serbiens beispielsweise hatte für ihre ausreisewilligen Mitglieder Busse organisiert. Das war zwei Tage vor dem Beginn der Bombardierungen. Danach logierten die serbischen Juden in einem Budapester Hotel, und manch anderer Flüchtling blickte mit Neid auf sie, für die es - dank der jüdischen Solidarität, die sich einmal mehr als stark erwies - viel einfacher war, eines der begehrten West-Visa zu bekommen.

Stojan Vujicic hilft serbischen Flüchtlingen auf seine Weise. So organisierte er einen literarischen Abend zu Ehren seines Kollegen Dragan Velikic. Doch das sind nicht die einzigen Veranstaltungen dieser Art. Erst kürzlich ging in Budapest ein Festival der jugoslawischen Musik zu Ende, gefolgt von einem zweiten, dem jugoslawischen Film gewidmet. »Das kommt daher, weil hier so viele serbische Künstler sind«, sagt Velikic mit einem Ausdruck, der zwischen Bedauern und Stolz hin- und herschwankt. »Wenn der berühmte Regisseur Zelimir Zilnik da ist, dann darf man gutes serbisches Kino erwarten.« Wäre die materiellen Bedingungen besser, gäbe es weitaus mehr solcher Ereignisse. So aber konnte Velikic zu dem literarischen Abend nur fünf Exemplare seines neuen Buches mitbringen. »Wer keines bekommen hat, muß in eine Wiener Buchhandlung gehen. Das ist für unsereins der nächste Ort.«

Der kulturelle Veranstaltungskalender der Budapester Exil-Serben würde jeder jugoslawischen Stadt zur Ehre gereichen. Doch langsam geht auch diese Zeit ihrem Ende entgegen. Lange Schlangen vor den westlichen Botschaften machen nur allzu deutlich, wohin fast alle Serben weiter wollen. »Es gibt keinen Grund mehr, hier zu bleiben«, sagt Stojan Cerovic, der in zehn Monaten nach Amerika gehen will. Dragan Velikic wird nach Wien fahren. Und so löst sich diese Flüchtlingswelle am Ende genau so auf wie die vorherige Mitte der neunziger Jahre, als 200.000 Studenten nach Ungarn flohen, um der Armee Milosevics zu entgehen. In Ungarn bleiben oder gar zurückkehren wird kaum jemand. »Das ist eine Reise ohne Wiederkehr«, sagt Stojan Vujicic und hat allen Grund traurig zu sein.

Aus dem Englischen von Torsten Wöhlert

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