Für einen guten Dokumentarfilm bräuchte es stets einen echten Konflikt, meinte eine bulgarische Kollegin zu Beginn des Festivals zu mir, von Dokumentarfilmen etwa aus der Schweiz erwarte sie sich deshalb wenig; was für echte Konflikte gäbe es dort denn schon? Am Ende erklärte sie dann ausgerechnet die beiden Schweizer Wettbewerbsbeiträge zu ihren Lieblingsfilmen. Was sowohl für ihren aufnahmebereiten Geist spricht, als auch für die Überzeugungskraft der Filme selbst.
Im ersten dieser Filme, Sturm im Wasserglas, zeigt Regisseur Fernand Melgar die erstaunliche Harmonie einer für landläufige Vorstellungen sehr exzentrischen Familie: Vater Pascal nämlich geht bevorzugt im rosa Minirock und Stöckelschuhen durchs Dorf. Tagsüber
rf. Tagsüber verrichtet er beim örtlichen Abbruchunternehmen körperliche Schwerarbeit, nach Feierabend träumt er vom Auftritt als Schlagersängerin oder läuft an Weihnachten als "Mère Noel" durch die Straßen. Seine Frau und die gemeinsamen Kinder akzeptieren ihn als unterhaltsamen Wanderer zwischen den Welten, der zugleich auch liebender Ehemann und Vater ist. Im Dorf jedoch löst sein Auftreten immer wieder Unruhe aus und seine eigene Mutter klagt auf Entziehung des Sorgerechts. Mit großer Gelassenheit und einer Zurückhaltung, die seinen "Helden" genug Raum zur Selbstdarstellung lässt, beobachtet Melgar den fortwährenden Kampf um Akzeptanz für ein Familienglück, das viele nur schwer als solches sehen können.Das ist bei den Familien in Erich Langjahrs Hirtenreise ins dritte Jahrtausend, ausgezeichnet mit dem Hauptpreis des Festivals, anders. Das einfache Leben, für das sich die "Helden" hier entschieden haben, stellen sich viele als entbehrungsreich, aber glücklich vor, weil es an alte, traditionelle Lebensformen, sozusagen ans Glück der Ahnen anknüpft. Doch Langjahrs Film über das Schäferdasein heute ist kein nostalgisches Porträt eines aussterbenden Berufsstandes. In nüchternen und doch sehr schönen ruhigen Bildern verfolgt er die alltäglichen Verrichtungen dieser Saisonarbeit. Das Nomadendasein im Winter, das anstrengende Tageswerk auf der Alm im Sommer haben sich seine Protagonisten nicht als unwillkürliche Fortsetzung eines väterlichen Gewerbes ausgesucht, sondern aus freien Stücken. Mit seiner Konzentration auf lokale Spezifika scheint der Schweizer Langjahr darüber hinaus ein Erbe zu berühren, das in Zeiten der Globalisierung zu verschwinden droht - nicht umsonst kam dieser Film bei den Kollegen aus Kalabrien oder Bangladesh ebenso an wie bei der erwähnten Bulgarin.Beide Filme enthalten bereits die Themen, die das diesjährige Dokfestival prägten: immer wieder ging es einerseits um schwierige Familiengeschichten und andererseits um das Leben jenseits der Städte. So gesehen ergänzten sich die Filme als Dokumente zweier einander entgegengesetzter Richtungen der Suche nach den Konflikten der Gegenwart. Wobei die Schwerpunktbildung zugleich die Gelegenheit zum kritischen Methodenvergleich bot: Während die einen Sergej Loznicas Herangehensweise in Portret aufregend und neu empfanden - für jeweils 20 Sekunden filmte er die Bewohner eines Dorfes bei Petersburg in bewegungslosen schwarzweißen Einzelaufnahmen -, lobten die anderen Thomas Heises stoische Geduld beim Ausharren in der Provinz; alles andere als stillhaltend reden sich seine Protagonisten in Vaterland zum Teil um Kopf und Kragen. Heise wurde für seinen Film, der irritierend zwischen Pessimismus und Frohsinn hin und herschwankt, mit der silbernen Taube ausgezeichnet und Loznica mit einer lobenden Erwähnung bedacht. In gleich fünf Filmen (von 16) nahmen sich die Regisseure die eigene Familie vor; in jedem davon ließ sich ein anderer Umgang mit dem Problem der Veröffentlichung von Privatem beobachten. Katrin Eißing etwa setzt in Auf demselben Planeten beim älteren, an Schizophrenie erkrankten Bruder an, der mit Fluchtaktionen und Drogenabhängigkeit die Kindheit seiner jüngeren Geschwister beschwerte. In schleppenden Gesprächen befragt sie Mutter und Brüder und setzt so allmählich ein düsteres Familienporträt einer Kindheit in den Siebzigern zusammen. Falsch verstandene antiautoritäre Erziehung, die mütterliche Hausfrauen-Depression und ein abwesender Vater sind die wiederkehrenden Motive. Eißings Film macht bewusst, wie schwierig es ist, jenseits der eingeschliffenen Formeln des typisch westdeutschen Psycho- und Sozialtalks die ganz eigene, persönliche Geschichte herauszuarbeiten. Ihr Film hinterlässt den zwiespältigen Eindruck, einerseits sehr intim zu sein und andererseits sehr viel auszulassen.Stilistisch und formal war der radikale Gegenentwurf dazu Boogie Woogie Daddy des Schweden Erik Bäfving. In nur zwölf Minuten schildert der Autor die Entwicklung seines Vaters vom fröhlichen Boogie-Woogie-Spieler, der mit seinen Kindern tobt, zum alkoholkranken Außenseiter, der sich eines Morgens vor der Schule von seinem Sohn verabschiedet, um danach vom Balkon zu springen. Bäfving befragt keine Zeitzeugen, keine Geschwister oder Freunde, sein Ausgangsmaterial ist die Photosammlung seines Vaters, und aus dem Off erzählt er, was ihm beim Anblick dieser Photos noch in den Sinn kommt. Mit sorgfältigem Schnitt und fast literarisch verdichteten Kommentar ist Boogie Woogie Daddy ein kleines Dokumentarjuwel, das verdientermaßen als bester Kurzfilm ausgezeichnet wurde.Als ähnlich überlegt im Umgang mit seinen Mitteln erwies sich auch der französische Film Exil in Sedan von Michael Gaumitz. Die verschiedenen Techniken der Computeranimation nutzend, setzt Gaumitz mit Photos, Zeichnungen und Überblendungen von beidem zu einer Suche nach dem blinden Fleck in der eigenen Familiengeschichte an: Warum, so lautet seine Ausgangsfrage, zog sein deutscher Vater mit Familie 1946 ausgerechnet nach Sedan, in eine Stadt, die für viele Franzosen geradezu emblematisch für Deutschenfeindlichkeit steht. Wie aus einem Mund wiederholen es die Geschwister vor der Kamera: Wir waren die "boches, sales boches". Alle fühlten sich dem Vater, der während der Nazizeit sieben Jahre als vermeintlicher "Berufsverbrecher" im KZ verbrachte, aufs Äußerste entfremdet, keinem der Kinder hat er je erzählt, was er mitgemacht hat. Auf seiner Spurensuche in den Kneipen von Sedan entdeckt Gaumitz dann die ganz andere Seite des Vaters: Als gut gelaunt und gut gelitten beschreiben ihn die älteren Herren und Damen. "Sie sehen genauso aus wie er", sagt einer, und auf einmal wird klar, dass es dem Regisseur tatsächlich auch darum geht, eine verdrängte Seite im eigenen Ich aufzudecken. Was er sich zu Lebzeiten des Vaters nie zu fragen getraute, trägt er nun in Recherchen zusammen. Die endlich gesicherte Erkenntnis, dass sein Vater Zeuge und eventuell gezwungener Mittäter bei Kriegsverbrechen an der Ostfront war, verändert und befriedet am Schluss die ganze Familie - und zum Zeichen der eigenen Versöhnung macht sich der Regisseur selbst im Film kenntlich.Wo Gaumitz´ Film den langen Schatten eines Kriegsverbrechens zeigt, hat man mit Juri Chas?c?evatskijs Gefangen im Kaukasus die Aktualität solcher Handlungen, die kein Vater den eigenen Kindern erzählen will, erneut vor Augen: Er zeigt schockierende Aufnahmen aus dem Tschetschenienkrieg, die ihm ein befreundeter Kameramann geschickt hat. Sein Film ist ein wütendes Pamphlet; in der Form so grob wie ein Fluch und ebenso kräftig in der Wirkung. Und doch lässt er den Zuschauer ratlos zurück - einerseits scheint es vollkommen unangemessen, über ästhetische Mängel zu reden, und andererseits ist man müde von der Konfrontation mit dem Schrecken, über den man doch Bescheid weiß. Die bulgarische Kollegin revidierte denn auch ihre Aussage: Es ist ungeheuer schwer, über echte Konflikte einen guten Dokumentarfilm zu drehen.Aus Bulgarien kam zudem ein Film, dessen ganzer Charme darin bestand, von der Abwesenheit von Konflikten zu erzählen: Stephan Komandarev hat für Brot über den Zaun, - ausgezeichnet als bester osteuropäischer Dokfilm - zwei Dörfer in seiner Heimat gefunden, in denen Katholiken, Muslime und Orthodoxe in Frieden zusammenleben. Von den einfachen Handlungen, die den Frieden ausmachen, lässt er sie erzählen, von nachbarschaftlicher Hilfe, aus der familienähnliche Verhältnisse entstehen: das kinderlose alte katholische Paar adoptiert die junge muslimische Familie. Religiosität trennt hier die Menschen nicht, sondern führt sie im Gegenteil zusammen; ihre jeweiligen Rituale und Offenbarungen begreifen sie stets als Aufforderung zu Toleranz und Menschlichkeit.Mit über 20.000 Zuschauern hat das Leipziger Festival in diesem Jahr ein Nachwende-Rekordergebnis zu verzeichnen, das den Aufwärtstrend des letzten Jahrs bestätigt. Angesichts eines Programms, das den Zuschauer allenfalls durch die Gleichzeitigkeit des Vielfältigen und Interessanten frustrierte, kann sich diese Steigerung im nächsten Jahr eigentlich nur fortsetzen.
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