Ich lebe nun schon seit gut drei Monaten in Krakau. Und noch kein einziges Mal ist mir das passiert, was ich aus den Niederlanden oder auch aus Dänemark kenne. Ich bin noch nie beschimpft worden. Ich meine, weil ich Deutscher bin. Anfangs habe ich es vermieden, Deutsch zu sprechen. Das mag vielleicht übertrieben klingen, aber ich fand es einfacher, sagen wir, mich als Niederländer oder Däne zu fühlen, der in Polen zu Gast ist. Ich hatte keine Lust auf die Gespräche, die man gezwungen ist, als Deutscher im Ausland zu führen. Vielleicht wollte ich das Land auch einfach nur so kennen lernen wie die zahllosen Touristen aus Übersee, die Krakau heimsuchen. Ich wollte mich für das gegenwärtige Polen interessieren, einmal absehen von der Geschichte
Reisende aus dem Morgenland
Mentale Grenze Zwei Bücher über den unbekannten Nachbarn Polen
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hte.Vor ein paar Tagen saß ich mit einem Buch in einem Café. Genauer gesagt handelte es sich wohl eher um eine Spelunke, und es war schon ziemlich spät in der Nacht. Vermutlich fiel ich deshalb als Leser besonders auf. Jedenfalls kam ein jüngerer, schon recht betrunkener Mann auf mich zu und erkundigte sich nach meiner Lektüre. Ich war auf das Schlimmste gefasst, denn mein Buch handelte von einer Reise entlang der deutsch-polnischen Grenze. Und die erste Frage, nachdem meine Zufallsbekanntschaft sich auf den Stuhl neben mir fallen gelassen hatte, lautete auch prompt, was ich über Breslau denken würde. Er sagte tatsächlich Breslau. In einer Mischung aus Deutsch, Polnisch und Englisch erklärte ich ihm, dass mir diese Diskussion schlichtweg egal sei. Und das stimmte auch. Ich hatte nicht gelogen oder mich verstellt. Die Diskussion um die deutsch-polnische Grenze erschien mir genauso weit weg wie die befremdliche Renaissance Preußens in den letzten Versuchen der deutschen Selbstverständigung. Genau so gut hätte ich mir Gedanken machen können um das Elsaß oder um eine der anderen zahlreichen Grenzverschiebungen. Ich konnte einfach nichts damit verbinden, dass ein Teil des heutigen polnischen Staatsgebiets früher einmal deutsch war.Sichtlich erleichtert stimmte mir mein Nachbar zu. Auch er hatte offensichtlich keine Lust, über die Vergangenheit zu reden. Oder war einfach nur froh, dass ich nicht zu den deutschen Gästen gehörte, die nach Polen reisen, um Ehemaliges wiederzufinden. Wir schoben unser Einverständnis dann schnell auf die Generation. Unsere Generation, sagte er, blickt in die Zukunft. Das konnte ich für mich und meine Altersgenossen zwar nicht gerade unterschreiben, aber im Grunde hatte er recht. Der berühmte Schlussstrich hat sich schon längst vollzogen. Viel lieber wollte mein neugieriger Nachbar wissen, was ich denn vom deutschen Kanzler und seiner Politik halten würde. Dabei zeigte er eine erstaunliche Kenntnis der deutschen Innenpolitik, während ich gerade mal froh war, den Namen des polnischen Staatsoberhaupts zu wissen und wenigstens einen ungefähren Überblick über die polnische Parteienlandschaft zu haben. So ist das in den deutsch-polnischen Beziehungen. Obwohl sich in Polen weiß Gott niemand nach den guten alten Zeiten zurücksehnen würde, trifft man häufig auf ein sehr ausgeprägtes historisches Bewusstsein. In Deutschland scheint das geradezu umgekehrt zu funktionieren.In gewisser Weise könnte man sagen, war das genau die Frage des Buches, das ich gerade las. Es handelte sich nämlich um ein Reisetagebuch mit dem Titel Grenzfälle. Zwischen Polen und Deutschen, das beginnend mit Görlitz und Zgorzelec all die kleinen und größeren Orte an der deutsch-polnischen Grenze in den Blick nimmt, die seit 1989 sicherlich die heftigsten Veränderungen erfahren haben. Vor allem, was die Stimmung angeht. Zum Teil hatte ich diese Orte selbst bereist und konnte die Erfahrungen des Autors gut nachvollziehen. Es machte nämlich einen riesigen Spaß, diese Grenze an den unterschiedlichsten Übergängen immer wieder zu passieren, nur um jedes Mal aufs Neue festzustellen, wie unterschiedlich der Umgang mit den letztendlich gleichen Problemen sein kann. Denn die aktuellen politischen Diskussionen in Polen sind nicht viel anders als in Deutschland. Arbeitslosigkeit und immer wieder Arbeitslosigkeit. Mit dem einzigen Unterschied vielleicht, dass die Polen noch deutlicher als in diesem Land glauben, dass die meisten Probleme mit einem höheren Wirtschaftswachstum gelöst werden könnten.Dass das Reisetagebuch von einem Schweizer geschrieben ist, nämlich von dem NZZ-Folio-Redakteur Peter Haffner, machte es mir einfacher, daran zu glauben, dass meine Erfahrungen nicht aus irgendeinem Vorurteil gegen meine eigenen Landsleute resultieren, sondern einigermaßen teilbar sind. Die ökonomischen Probleme in Polen sind wesentlich gravierender, Deutschland ist immer noch ein sehr reiches Land. Ein Umstand allerdings, der den Blick auf den neuen EU-Nachbarn eher erschwert. Denn viele verwechseln ihre relative Kaufkraft immer noch mit einer überlegenen Kulturleistung. Das verhindert es, darüber nachzudenken, ob man von diesem Nachbarn nicht etwas lernen könnte. Es ist müßig, die vielen Vorurteile aufzuzählen, die das deutsch-polnische Verhältnis prägen und die Bekanntschaft mit der polnischen Gegenwart weitestgehend überlagern. Den Polen, denkt man, geht es in jedem Fall noch schlechter. Aber das stimmt nicht.Haffners Reise erzählt die schwierige Geschichte der Oder-Neiße Grenze und zugleich vom dem Alltag, der sich trotz alledem im letzten Jahrzehnt im Umgang mit dieser Geschichte eingestellt hat. Nicht selten haben die geteilten Städte seltsame Lebensschicksale hinterlassen und eine solche Entfremdung auf nur wenigen hundert Metern, dass einem Begriffe aus der DDR-Zeit wie "Friedensgrenze" oder "Brudervölker" nur noch zynisch vorkommen. Von Jelenia Góra, über Bautzen, Hoyerswerda, Niesky, Bad Muskau, Guben, Szczecin, bis hin zur Ostsee oder zum Baltischen Meer lässt sich Haffner allein von seiner Neugier auf die Stimmung in den Grenzorten leiten. Wie ein Reisender aus dem fernen Morgenland liest er die skurrilen Kleinanzeigen der Regionalblätter oder die Touristenprospekte der städtischen Selbstvermarktung. Manchmal reicht es auch schon, einfach nach dem Weg zu fragen, wie in Bautzen, um das herauszufinden, was nicht in den Prospekten steht. Nur einer der Befragten wusste, wo die politischen Häftlinge der DDR untergebracht waren.Eines der eindrücklichsten Kapitel in Haffnes Reisetagebuch ist sicherlich die Station Frankfurt an der Oder/Slubice. Die Situationen diesseits und jenseits der Oder in der geteilten Stadt spiegeln vielleicht einen generellen Zug der mentalen Grenze zwischen den beiden Völkern wider. Zwar ist in Frankfurt viel Aufbauarbeit geleistet worden, inzwischen gibt es die gleichen Einkaufspassagen wie im Westen, aber trotzdem hat man den Eindruck, dass merkwürdiger Weise aus genau diesem Grund das Unglück nur noch größer geworden ist. So als hätte man irgendwo ein nagelneues Hotel hochgezogen, ohne sich zu fragen, ob jemals ein Gast dorthin finden würde. Nun wartet man in den gespenstischen Hallen. Wer es sich leisten kann, lebt in Berlin und pendelt zu seinem Arbeitsplatz. Wohnungsleerstand und Abwanderung tun das Übrige zur Kränkung der Stadt. Obwohl Frankfurts Infrastruktur moderner ist als die der meisten westdeutschen Städte, schrumpft die Einwohnerzahl seit der Wende unablässig. Slubice dagegen wächst. Und das enorm.Selbstverständlich lässt sich das damit erklären, dass von dem neuen Warenverkehr zwischen den Grenzen auf deutscher Seite nicht unbedingt die unmittelbaren Grenzstädte profitieren, während umgekehrt die polnischen Städte aufgrund des niedrigeren Preisniveaus alle möglichen Geschäftemacher, seriöse und unseriöse, anziehen. Es ist keine Frage, dass die polnische Wirtschaft seit 1989 wesentlich mehr Dynamik entwickelt hat. Aber dahinter steckt nicht nur ein ökonomischer Grund. Die polnische Bevölkerung musste sich den Ist-Zustand auf eine ganz andere Weise erkämpfen. Und obwohl zur Zeit vielleicht nur ein Drittel der Menschen von der neuen Situation wirklich profitieren kann, gibt es nicht das Phänomen der Sehnsucht nach den alten Zeiten. Niemand würde behaupten, dass früher alles besser war. Auch wenn solche Floskeln immer überspitzt sind. Aber in der polnischen Bevölkerung hat sich das Bewusstsein durchgesetzt, dass die historischen Chancen noch nie so groß waren wie heute. Man ist skeptisch der Europäischen Union gegenüber. Aber man ist ohne Zweifel europäisch. Man weiß, dass die unmittelbare Zukunft nicht rosig aussieht, aber man kennt die Geschichte hinreichend, um die Gegenwart in Angriff zu nehmen. Natürlich hat auch dies seine historischen Gründe, und es ist lohnend, sich darüber in Brigitte Jäger-Dabeks Buch Polen. Eine Nachbarschaftskunde für Deutsche genauer zu informieren. Ein Buch, das sich genau an jenen Vorurteilen abarbeitet, die sich einzig aus dem Grund in die Gegenwart retten konnten, weil die deutsch-polnischen Beziehungen noch keine Gegenwart haben. Und damit ist nicht die Ebene der großen Politik gemeint. Jäger-Dabek leistet eine gute Beschreibung der mentalen Zäsur, die sich im postkommunistischen Polen in den letzten Jahren vollzogen hat.Dagegen hat man in Deutschland das Gefühl, es würde gewartet, ohne genau zu wissen worauf, und sei es nur auf einen geräuschlosen Ruck. Möglicher Weise war das wiedervereinigte Deutschland im zurückliegenden Jahrzehnt zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Was sich im größten der östlichen Beitrittsländer tat, spielte in der deutschen Öffentlichkeit kaum eine Rolle. Allenfalls die bevorstehende Öffnung des Arbeitsmarkts machte noch mehr Zukunftsangst. Wer allerdings wie Haffner die deutsch-polnische Grenze bereist, wird sich auf Überraschungen gefasst machen müssen. Die Fähigkeit, mit Unsicherheiten umzugehen, ist auf der anderen Seite dieser Grenze deutlich ausgeprägter und weniger angstbesetzt. Bislang wissen die Polen wesentlich mehr über die Deutschen als umgekehrt. Kaum ein Deutscher kann Polnisch oder auch nur die paar Worte, die man braucht, um ins Gespräch zu kommen. Genauso wie es nötig war, nach Frankreich, Italien oder Skandinavien zu reisen, um mehr als nur Erinnerungen mitzubringen, wird es in Zukunft wichtig sein, das gegenwärtige Polen kennen zu lernen. Und wer keine Zeit hat zu einer Reise, sollte wenigstens Haffners Reisetagebuch lesen und schnellstens beginnen mit der Nachbarschaftskunde.Peter Haffner: Grenzfälle. Zwischen Polen und Deutschen. Eichborn, Die Andere Bibliothek. Frankfurt am Main 2002, 369 S., 27,50 EURBrigitte Jäger-Dabek: Polen. Eine Nachbarschaftskunde für Deutsche. Christoph Links, Berlin 2004, 254 S., 15,90 EUR
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