Comiczeichner Thomas steckt in einer Schaffens- und Sinnkrise. Seit zwei Jahren hat er kein Album mehr herausgebracht, an den Abenteuern seiner beliebten Heldin hat er den Geschmack verloren. Er suche nach einem persönlichen Ton, erklärt er einem enttäuschten Fan, der den einsamen Mann am Stand seines Verlages auf einer Comicmesse ungeduldig ausfragt.
Es liegt nahe, in dieser Szene aus diese Woche startenden Film Vertraute Fremde eine Hommage an den Autor der Vorlage zu entdecken. Der Film beruht auf dem gleichnamigen grafischen Roman des japanischen Zeichners und Szenaristen Jiro Taniguchi. Auch er hat mit aktionsreichen Mangas begonnen, Genrestücken über Detektive, Verbrecher und Boxer. In den neunziger Jahren entschied er sich jedoch, seine Stoffe fortan im Allta
n im Alltag zu suchen. Seither sind ihm das Sterben eines Hundes oder die Beerdigung eines Vaters Anlass genug für seine Bücher. Vertraute Fremde hat auf den ersten Blick hingegen eine spektakulärere Handlung aufzuweisen.Mangas RuheEin Mann mittleren Alters steigt in einen falschen Zug, der ihn in seine Heimatstadt bringt, wo er am Grab der Mutter ohnmächtig wird und sich sodann, mit dem Bewusstsein des erwachsenen Familienvaters, in seiner Existenz als 14-Jähriger wiederfindet. Der belgische Regisseur Sam Garbarski hat daraus eine redlich lyrische, nostalgische Tragikomödie um die Rückgewinnung der verlorenen Zeit gemacht. Vor allem dank seiner Hauptdarsteller (Pascal Greggory und Léo Legrand) trifft er staunenswert häufig den entrückten Erzählgestus der Vorlage.Deren Autor wäre gewiss viel zu bescheiden, um den eigenen Beruf ins Zentrum zu rücken (sein Protagonist ist Architekt), aber wohl auch zu höflich, um Widerspruch einzulegen. Gegen Ende des Films ist er selbst in einer Einstellung zu sehen, in der er den fragenden Blick Thomasens mit einem wohlwollenden Lächeln erwidert. Manche Regisseure sind nicht verlegen darum, sich den Segen für die eigene Arbeit zu sichern. Das Werk von Jiro Taniguchi hat allerdings nicht unbedingt der Verfilmung geharrt; es ruht in sich. Aus dem unübersichtlichen Aufgebot an Mangas ragt es durch eine wohltuende Reizarmut heraus. Nach einem kurzen farbigen oder monochromen Auftakt wechseln seine Panels in ein konzentriertes Schwarzweiß über. Sein Strich ist eher kontemplativ als dynamisch. Seine Helden sind Durchschnittsbürger, die sich in ihren Leidenschaften, Hoffnungen und Schicksalen wenig von ihren Mitmenschen unterscheiden. Ihre Sprache ist gediegen und förmlich, von emphatischer Alltäglichkeit. Taniguchi zeichnet sie mit klarer Linie, die sie archetypisch, wenn auch nicht eigenschaftslos, erscheinen lässt.Mit Der spazierende Mann von 1992 wurde er auch in Europa bekannt. In dieser Sammlung grafischer Erzählungen erkundet ein Angestellter nach einem Umzug seine neue Nachbarschaft. Die Besitznahme der unbekannten Umgebung vollzieht sich in absichtslosem Schlendern und in flüchtigen Begegnungen, denen der Zeichner lakonisches Gewicht verleiht. Der Neuankömmling lernt kleine Lektionen in Vogelkunde, räumt einer jungen Frau deren Stammplatz unter einem Kirschbaum und folgt einem älteren Herrn mit Stock, bis sie sich wortlos auf ein gemeinsames Schritttempo einigen. Kleine Fundstücke – etwa ein Lippenstift, mit dem einige Schülerinnen schüchtern das Erwachsenwerden erproben wollten – eröffnen den Episoden eine kleine, unermessliche Dimension von Gemeinschaft. Die Spaziergänge des namenlosen Helden sind gewissermaßen ebenfalls Zeitreisen: Er unternimmt sie mit der Neugierde und Muße eines Schuljungen, der seine Hausaufgaben erledigt hat. Ein sanfter Hauch von Allegorie umweht diese alltäglichen Eskapaden; stets findet der Flaneur das Bukolische in harmonischer Eintracht mit der Urbanität.Ozus NachbarDas große Thema Taniguchis Spätwerks, die Suche nach Frieden, klingt in Der spazierende Mann bereits an. Seine Geschichten, sagt Taniguchi, handeln von dem unbeschreiblichen Glück, eine Heimat zu haben. Es drängt sich geradezu auf, den Mangaka mit dem Regisseur Yasujiro Ozu zu vergleichen. Beide übertragen die familiären Konflikte der japanischen Mittelklasse und die Umbrüche der Nachkriegszeit in Stillleben von großzügiger, achtsamer Präzision. Die Momente des Alltags wiegen schwer in ihrem Werk. In deren Flüchtigkeit wissen sie das Wesen der menschlichen Existenz aufgehoben. Sie verstehen es, die Gleichförmigkeit geduldig zu variieren. Sie sind konservative Künstler im Sinne des Bewahrens, der Sehnsucht nach Permanenz. Aber ihre Melancholie ist verschieden geartet. Während bei Ozu ein wehmütiges Einverständnis mit dem „natürlichen“ Lauf der Dinge herrscht, handeln Taniguchis Chroniken von der Brüchigkeit der Gewissheiten. Die prägende Erfahrung der Protagonisten von Vertraute Fremde und Die Sicht der Dinge ist die abgerissene Verbindung zur Familie, der Verlust der Geborgenheit. Die Trennung der Eltern erscheint als ein einseitig aufgekündigter Pakt, der bei den Kindern ein tiefes Gefühl des Verrats hinterlässt.Auf den ersten Blick scheint die Bildsprache des Zeichners mit der des Regisseurs verwandt: als Formkraft einer zurückgewonnenen Einfachheit. Gern auch lässt Taniguchi auf Familienszenen stille Ansichten von Straßen folgen, um die Atmosphäre neu zu justieren. Anders als Ozu sucht er jedoch nicht durchgängig die Augenhöhe seiner Charaktere, sondern bevorzugt diagonale Aufsichten oder lässt gar das Leben in verkanteten Perspektiven aus den Fugen geraten. Aber wie Ozu versteht er es, die Zeit stillstehen zu lassen. Das Zusammenspiel von Format und gestaltetem Bildraum lädt den Leser zum Innehalten ein. Im Kino ist diese Magie schwer heimisch zu machen. Aber sie hat ja längst ihre Heimat gefunden.