A-Z Es ist der Sommer der Rekordernten. Kirschen sind süßer Geschmack, gruselige Kindheitserinnerungen und sexuelle Freiheit. In Japan ist Hanami („Blumenschauen“) eine jahrtausendealte Tradition, Mick Jagger singt von Heroinersatz. Ein Lexikon
Absturz Es klingt lässig, drei Akkorde, es sind immer die gleichen, man könnte ewig grooven mit You Can’t Always Get What You Want – dem Song, den Mick Jagger mal als „one of those bedroom songs“ beschrieben hat, ein Lied, nach dem Aufwachen in ein paar Minuten auf der Akustikgitarre komponiert. Es besteht aus rätselhaften Zeilen, wenn Jagger etwa von Mr. Jimmy singt, einem Mann, der ziemlich krank aussieht, er trifft ihn in der Schlange vor dem berühmten Chelsea Drugstore. Sie entscheiden sich für ein Soda, „my favourite flavour: cherry red“. Seit Jahren frage ich mich, was das bedeuten soll. Soda, in der Apotheke? Das Ende einer Dauerparty? Rolling- Stones-Analysten sehen in Kirschrot eine der Geschmackssorten für Methado
in Kirschrot eine der Geschmackssorten für Methadon, das sich Junkies wie Mr. Jimmy dort in der Apotheke auf Rezept abholen. Kein Zufall, dass das Lied 1969 entstand, als Swinging London ausgebrannt war. Maxi LeinkaufEEdelkirsche Bevor es auf der Familienfeier knallt, gibt es allerlei Rituale, diesem ruinösen Zenit der Zusammenkunft genetisch Verketteter zu entkommen. Nicht hinfahren ist dabei eine bewährte Taktik, klappt leider nicht immer. Geistig abschalten funktioniert auch nicht verlässlich, und teilweise kann man gar nicht weniger abschalten als die, die sich extra für die Feier, die keiner als solche empfindet, hochgeschaltet haben. Dann bleibt nur die Flucht nach vorn – ins Gebäck und die Pralinen. Ein dem Kapitalismus entsprechender, ökotrophologischer Untergang, wenn man die Insulinausfuhr auf Raketenniveau fährt. Noch effektiver sind diese kleinen, von Zartbitterschokolade umhüllten Narkosebomben, die nonchalant in einer verschwörerischen Trias aus Gold, Kupfer und Luderrot gereicht werden und nur trainierte Trinker nicht ins Velourpolster sinnberaubter Gleichgültigkeit reißen. Nach drei dieser Biester pralinöser Hinterhältigkeit (➝ Sauerkirschen) halte ich selbst meine Familie für erträglich. Jan C. BehmannHHanami Einmal jährlich versammelt sich ganz Japan unter blühenden Sakura-Bäumen, um deren Schönheit zu bewundern, und das Land explodiert in eine rosa-rote Wolke. Wortwörtlich, denn die Kirschblüten sind von Februar bis April überall: in der Schokolade, in den Getränken, an den Bahnsteigen und auf jedem Bild und jeder Werbetafel. Im Straßenbild sind sie ohnehin omnipräsent, weil es einfach so viele gibt. Die Tradition des Hanami (zu deutsch „Blumenschauen“) ist über tausend Jahre alt. Manche Bäume sind sogar noch älter. Der Reiz der Sakura liegt nicht zuletzt in deren Kurzlebigkeit (➝ Zeit der Kirschen). Sie blühen nur wenige Tage, maximal zwei Wochen. Entsprechend sendet der Wetterbericht in Japan im Frühling nicht nur, wo die Sonne scheint, sondern auch in welcher Region wann die Blüte erwartet wird. Wer nicht genug bekommt, kann eine Reise vom Süden bis in den Norden buchen und den Sakura hinterherfahren. So lässt sich deren Schönheit ganze zwei Monate genießen. Wobei es den wenigsten dabei um die Kirschblüten geht. Meistens ist es einfach ein Grund, bei schönem Wetter im Park zu picknicken und viel Alkohol zu trinken. Echte Sakura in Deutschland gibt es wenige, nur die in Bonn sind sogar in Japan berühmt. Alina SahaMMundraub Kürzlich bin ich an einem Garten vorbeigekommen und sah hinter dem Zaun einen Kirschbaum voller reifer Früchte. Ja, es muss ein Jahr der reichen Ernte sein. Ich streckte mich ein bisschen, aber sie blieben unerreichbar. Noch in der Bewegung erinnerte ich mich an die Kindheit. Der Heimweg vom kleinen Schwimmbad im Bezirk führte durch eine Kleingartenanlage. Dort angelten wir vom Weg aus nach den Kirschzweigen. War gar nicht so einfach, aber mein großer Bruder führte – vorausschauend – einen kleinen Ast mit. Wenn das nicht klappte, langten wir zwischen den Zaunlatten auch nach Johannisbeeren, aber nichts ging über die Kirschen. Einmal kam eine Gartenbesitzerin, die uns freundlich ein paar Früchte herüberreichte. Das war nett, beschämte uns aber nicht weiter und führte auch zu keiner Einsicht (➝ Absturz). Magda GeislerNNachbars Garten „Rote Kirschen ess ich gern, schwarze noch viel lieber“: Einige geflügelte Worte drehen sich um die Steinfrucht – Die Kirschen in Nachbars Garten heißt zum Beispiel ein Werk von Victor Hollaender (➝ Zeit der Kirschen). Es handelt vom Fremdgehen: Die Früchte nebenan seien einfach zu verlockend. Im Mittelalter galten Kirschen als selten. Nur gut Betuchte konnten sie sich leisten. Wenn sie in ihrer Runde jemanden entdeckten, dem ihre Missgunst galt, bespuckten sie ihn mit Kernen: Mit ihnen war nicht gut Kirschenessen. TPOÖffentlicher Raum Die Kunst im Freien hat es schwer. Die Menschen mögen sie nicht, machen Witze darüber. Thomas Schüttes Kirschensäule, eine sechs Meter hohe Skulptur aus Sandstein und lackiertem Aluminium, die seit 1987 auf dem Harsewinkelplatz in Münster steht, ist eine Ausnahme: Sie ist ein ironischer Kommentar auf die Funktion von Kunst im öffentlichen Raum, ein postmodernes Pop-Art-Kunstwerk, ein sinnliches, geliebtes Ding, Wahrzeichen der Stadt und Mittelpunkt des inzwischen neu gestalteten Platzes. 1987 sah es hier noch vollkommen anders aus. Da war der Harsewinkelplatz ein Parkplatz mit Abfall- und Altglascontainern, was Schütte reizte. Jetzt steht seine Säule auf dem neuen, „schön“ gemachten Platz.Marc PeschkePPrunus avium Es ist der lateinische Namen für die Vogelkirsche, also unsere Süßkirsche (➝ Sauerkirsche). Ihre Verwendung ist bis in die Bronzezeit (2.200 bis 800 v. u. Z.) belegt. Aus dieser Epoche stammt auch die mythologische Verbindung des Obstes mit Fruchtbarkeitskulten. Die Griechen hielten die Bäume für heilig, die der Artemis geweiht waren, der Göttin der Jagd und des Waldes, aber auch des Mondes und der Geburt. Sie steht auch mit dem Totenreich in Verbindung und symbolisiert Werden und Vergehen, den Zyklus von Geburt und Tod. Mit den Römern gelangten die Süßkirschen – sowie mythische Zuschreibungen – über die Alpen. So sollen Geister in den unheimlichen Bäumen wohnen, Elfen um sie tanzen. Stören darf man beide Wesen bei Strafe nicht. Kirschen sollen auch Orte anzeigen, an denen die Seelen Verstorbener hausen. Verbreitet war der katholische Brauch, am Barbaratag – der 4. Dezember – Kirschzweige in Vasen zu stellen. Blühen sie zu Weihnachten auf, bringt das Glück. TPRRockabilly Einfach nur Rot kann jeder. Aber so ein mystisches, sattes Dunkelrot wie bei der Kirsche findet man selbst in der Natur selten. Unser Gehirn springt auf die Farbe an. Sie verspricht Süße, signalisiert Reife – und ist nicht ohne Grund sexuell konnotiert. Ideal für Jugendkulturen: Die Kirsche ist eines der Symbole der Rockabilly-Szene. Geboren aus dem Country und Rock’n’Roll der 50er-Jahre, gilt dieses Musikgenre – üblicherweise dargereicht mit Slap-Bass, E-Gitarre und dem typischen, Elvis-ähnlichen Gesang – heute als nischig. Dabei hat es eine lange Geschichte: In den 50er-Jahren trugen viele junge Frauen erstmalig knallige Kleider und knallroten Lippenstift zum Tanzen. Männer begrenzten sich auf Pomadefrisuren und Stoffhosen. Das war neu, verrucht und mutig. Bis heute gibt es überall kleine Szenen dieses Subgenres. Man findet immer mal eine Kirsche: auf einem Hosenträger, einem Schuh oder als Ohrring. Das mag nicht mehr so mutig sein wie in den 50er-Jahren, Weggucken kann man trotzdem selten. Konstantin NowotnySSauerkirschen Sie sind – ganz gleich, wie ertragreich die Ernten sind – kaum an Obstständen zu finden. Nur wenige Leute mögen sie, wie sie sind. Meist werden sie in dieser oder jener Form verarbeitet. Ich aber liebte sie als Kind, auch wenn zu viel Genuss meist stumpfe Zähne und Bauchgrimmen zur Folge hatte. So ist sie eben, die saure Schattenmorelle: Sie ist herb, zieht ordentlich was zusammen im Mund und den Gedärmen und schmeckte mir trotzdem viel kirschiger als die süßen Herz- und Knupperkirschen. Außerdem ist die Schattenmorelle gut für fast jede Art von Verarbeitung. Mehlsuppe mit Kirschsoße war eine beliebte Sommerspeise. Für Kuchen geht fast nur die Sauerkirsche (➝ Schwarzwälder Kirschtorte). „Aber bitte mit Sahne“ wendet das Herb-Fruchtige ins Saftig-Süße. Fleischgerichte erhalten durch Sauerkirsch-Saucen ein spezielles herzhaft wildes Aroma. Ob Rehrücken, Schweinefilets, Lammbraten oder Geflügel – sie alle können mit diesen fruchtigen Saucen geschmacklich gepimpt werden.Und dann gibt’s ja noch das hochprozentige Sauerkirschwesen: Kirschliköre, Kirschwässerchen und noch so viel mehr. Aber es existieren auch Sündenfälle wie Kirschwhisky oder Kirsch mit Wodka – das ist übler Verschnitt und nicht empfehlenswert. Kirschen haben es auch in die Bekleidungsindustrie geschafft (➝ Rockabilly). „Ey Kirsche!!!“ stand auf einem T-Shirt, das im Netz angeboten wird. Ob süß oder sauer wird nicht deutlich. War mal eine gängige Anrede.MGSchwarzwälder Kirsch Als erstes hat sie mich zum Erbrechen gebracht (➝ Absturz). Mein Onkel Hans wischte unter demütigenden Blicken seiner rigiden Ehefrau mein Erbrochenes neben seiner geliebten Modelleisenbahn auf; zumindest war es weder auf seinem kleinen Diorama noch im Christbaum gelandet. Im Sinne des Göttinger Verlegers Gerhard Steidl, erst mal die Grenzen einer Sache radikal auszuloten, um zu einem akzeptablen Ergebnis zu kommen, habe ich nach jahrzehntelanger Abstinenz dem schaumig-ausgelösten Airbag sahniger Backkunst eine zweite Chance gegeben. Nicht dass es an Alternativen im Angebot hiesiger Kühltheken mangelte. Da ist dieser Hang zu den definierten (von wem eigentlich?) „Torten-Klassikern“, die man dann und wann sich im Kaffeehaus mit wortloser Hörigkeit reichen lässt. Nur, um daraufhin wieder festzustellen, dass jeder Traum auch eine realistische und gar nicht blumige Entsprechung hat. Der Reiz des Gegensatzes lässt die Schwarzwälder Kirschtorte dennoch neben der biederen Sachertorte mit ihrer aalglatten Glasur hervorstechen. Dieser artifizielle „Gummihupferl“ auf dem Sahneturm: Als „Kirsche“ beschrieben, und doch alles andere als das, lässt er jede Schwarzwälder Kirschtorte wahrhaftig werden. JCB ZZeit der Kirschen Le temps de cerises – ein einfaches Liebeslied, ein Schlager. Es geht um Liebeskummer und einen Mann, der sagt, ich werde mich immer wieder neu verlieben, auch wenn es weh tut. 1866 hat Jean Baptiste Clément das französische Volkslied geschrieben, das in den blutigen Tagen von 1871 zur Hymne der Pariser Kommunarden wurde – der Autor war einer von ihnen. Die Aufständischen ersetzten im Kopf „Liebe“ mit „Revolution“ – was der eher metaphorische Text erlaubt. Eine verlorene Schlacht, aber wir werden uns immer wieder erheben! Chansonniers wie Yves Montand, Nana Mouskouri, Reinhard Mey oder Wolf Biermann machten eigene Versionen der „Kirschsaison“ (➝ Hanami).Maxi Leinkauf