Es ist es ein altes Problem konservativer Politiker, dass sie ihre Forderungen selten zu Ende denken. Zu-Ende-Denken ist eher eine Disziplin der Linken. Und deshalb sollten sie auf die Renten-Provokation der Rechten nicht immer mit dem gleichen ideenlosen Protest- und Empörungs-Geheul antworten. Sie sollten die Zu-Kurz-Denker mit Zustimmung verblüffen. Denn die Forderung nach einer „Rente mit 70“ eröffnet die Chance für eine umfassende, ja visionäre, Debatte.
„Rente mit 70? Warum nicht!“ müsste die Antwort einer Linken lauten, die sich auf der Höhe ihrer Zeit befindet. Selbstbewusst würde diese Linke hinzufügen: Wenn ihr Neoliberalen bereit seid, die Rahmenbedingungen für ein derart umstürzlerisches Vorhaben zu s
haben zu schaffen, wenn ihr den Mut habt, Gesellschaftspolitik neu zu denken, dann steht einer Unterstützung von unserer Seite nichts im Weg. Allerdings: Halbe Sachen machen wir nicht! Wer die Rente mit 70 will, muss sich vom Lebensmodell des Industriekapitalismus verabschieden.Genau das sagen – seit vielen Jahren – gänzlich unverdächtige Wissenschaftler: Die so genannten Alternsforscher sind überzeugt davon, dass die gute alte „Lebenslauf-Charta“ mit der linearen Dreiteilung des Lebens in eine 25-jährige Lernphase, eine 35-jährige Arbeitsphase und eine 25-jährige Ruhephase nicht mehr zeitgemäß ist. Die jungen Alten, sagen sie, werden im verordneten Ruhestand keine Ruhe mehr geben, die alten Jungen werden nicht länger in ihren Warteschleifen zirkulieren wollen, und die dreifach belasteten Berufstätigen werden immer öfter zusammenklappen.Die im Forschungsverbund „MaxnetAging“ zusammengeschlossenen Psychologen, Anthropologen, Bildungsforscher, Hirnforscher, Historiker, Demographen und Juristen warnen deshalb eindringlich vor der weiteren Stilllegung der Älteren. Diese seien nur deshalb so passiv, kränklich und unnütz, weil das politische und ökonomische System sie dazu mache. Man schiebe sie ab – so wie man die Jungen im Wartestau eines ineffektiven Bildungssystems parke, bis sie die Lust an der eigenen Lebensgestaltung verlieren. In der Lebensmitte dagegen führe die starre Dreiteilung des Lebens zum Kollaps: Mit 35 oder 40 müssten die Menschen nicht nur die größte Arbeitsleistung vollbringen, sondern auch Familie und Hausstand gründen, kleine Kinder versorgen und alte Eltern pflegen. Der Alternsforscher Paul Baltes erkannte in dieser „Überfrachtung der mittleren Lebensphase durch Mehrfachbelastung“ den Hauptgrund für die „Fertilitätskrise“ der 20- bis 40-Jährigen.Wie soll man das Leben aus dieser ungesunden Verdichtung befreien? Wie soll man es entzerren? Die Alternsforscher, die in dieser Aufgabe die „neue soziale Frage“ erblicken, schlagen eine umfassende Reform der Gesellschaft vor:1. Die Arbeits- und Lebenswelten müssten sich grundlegend ändernDie Lebensarbeitszeit würde nicht mehr am Stück absolviert, sondern in zahlreiche Scheibchen unterteilt. Das Wort Karriere verlöre seinen verengenden Sinn. Es gäbe Auszeiten für Kindererziehung, Elternpflege, Weiterbildung, Bürgerarbeit, Selbstfindung und Entspannung. Jobtauschbörsen würden die Einsicht in andere Arbeitsfelder vergrößern. Neue Leistungsmaßstäbe könnten helfen, die betriebliche Überbewertung 30-jähriger Singles und die betriebliche Unterschätzung 55-jähriger Familienväter zu korrigieren. Eine neue Raumordnungs- und Kommunalpolitik würde Wohnen, Freizeit und Arbeit stärker vernetzen und die Bildung von Ghettos verhindern.2. Die Bildungslandschaft müsste sich radikal ändernDie Ausbildung für mehrere Jobs, die Durchlässigkeit zwischen den Ausbildungssystemen, die Öffnung der Schulen und Universitäten für Interessierte jeden Alters und ständige Weiterbildungsmöglichkeiten wären in Zukunft Standard. Hinter dem gesamten Bildungssystem stünde der Leitgedanke, dass Entwicklung ein lebenslanger Prozess ist. Die drohende Spaltung der Älteren in eine winzige Minderheit von Kreativen und eine übergroße Mehrheit, die vor dem Fernsehapparat dahinvegetiert, könnte gestoppt werden, wenn Bildung zum Dreh- und Angelpunkt jeder Altersstufe würde.3. Die Vorstellung vom Ruhestand müsste sich fundamental ändernKreativpausen wären für 20-Jährige künftig so selbstverständlich wie für 50-Jährige. Erholungs- und Genussphasen wären so wichtig wie die Steinkühler-Verschnaufpause in der Metallindustrie. Freisemester für Studienreisen, Berufspraktika an Schulen und Theatern, Rentnerbands in der Dorfdisko – in jedem Alter würden Lernen, Arbeiten und Muße zu ganz neuen Erfahrungseinheiten verschmelzen.Wäre die Lebenslauf-Charta in diesem Sinne verändert, wäre auch das Renteneintrittsalter kein Dogma mehr. Amerikanische Alternsforscher bezeichnen diese neue Welt als „age irrelevant society“. Sie fordern eine Gesellschaft, in der das Alter für die Zuteilung von Lern-, Arbeits- und Ruhechancen keine Rolle mehr spielt.Auch die geschlechtsspezifischen Zuordnungen würden dann keine Rolle mehr spielen. Männer müssten sich darauf einstellen, ihre linearen Biographien zugunsten „zerstückelter“, „fragmentierter“ Lebensläufe aufzugeben. Sie würden erfahren, dass „prekär“, „zerstückelt“ und „fragmentiert“ nur Abwehrvokabeln für Verhältnisse sind, die man ebenso gut als „spannend“, „interessant“ und „abwechslungsreich“ bezeichnen könnte.Natürlich müssten die existentiellen Unsicherheiten, die mit der Abkehr vom linearen Lebenslaufmodell verbunden sind, durch die Einführung einer staatlichen Grundsicherung, eines bedingungslosen Grundeinkommens, kompensiert werden. Denn permanente Übergangsphasen benötigen eine stabile finanzielle Grundlage – für die im alten Industriezeitalter das männliche Lebenslaufmodell zuständig war.So weit die Utopien der Alternsforscher. Allerdings sind die gesellschaftlichen Strukturen noch längst nicht so beschaffen, dass vielen Menschen ein permanenter Umstieg und Neuanfang ermöglicht werden könnte. Arbeiten mit 70, lernen mit 40 oder mit 80, ruhen mit 35 oder mit 50 sind bislang „verrückte“ Ausnahmen.Erfahrungsgemäß dauert es eine Generation, bis die Vorschläge der Wissenschaft politisch verankert sind – und eine weitere Generation, bis sie in der Wirklichkeit ankommen. Es wäre deshalb höchste Zeit, dass sich die Linke mit den Erkenntnissen der Alternsforschung auseinandersetzt. Sonst steht sie in 50 Jahren wieder auf der Straße und protestiert mit Trillerpfeifen gegen die Rente mit 80.
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