Republik und Volksfront

Kommentar Le Pen als Kronzeuge Chiracs

Wo lag das republikanische Pflichtsoll des französischen Wählers am 5. Mai? 82 Prozent für Jacques Chirac, wird allenthalben versichert, das sei ein ermutigendes Quorum für Demokratie und gegen Demagogie. Hätte Selbiges nicht eher bei 85 Prozent und mehr für den Amtsinhaber liegen müssen, wenn Le Pen sein schon in der ersten Runde beachtliches Wählerreservoir von 4,8 Millionen Stimmen noch einmal ergiebig ausschöpfen konnte? Und was hätte man über die republikanischen Tugenden Frankreichs bei 75 oder gar 70 Prozent für Chirac gewusst? Der Schoß des Rechtsradikalismus ist so fruchtbar wie nie?
Vor dem Wahltag schien Jacques Chirac vorübergehend zum einzigen Hoffnungsträger von Demokratie und Republik aufgestiegen. Wann je war die V. Republik in einem so hoffnungslosen Zustand, sich Derartiges antun zu müssen.
Die eindrucksvolle Schizophrenie der Partie Volksfront Chirac gegen Nationale Front Le Pen entlud sich geradezu lehrbuchreif in der Person des Pariser Untersuchungsrichters Halphen, der dem Präsidenten seit Jahren mit Ermittlungsverfahren wegen korrupter Praktiken als Bürgermeister von Paris zusetzte, sich nun aber ohne Zögern zu Chirac bekannte. Wohlwissend, dass mit der Wiederwahl erneut Immunität winkt, die jedes Verfahren ausschließt.
Insofern ist Chirac seinem Widersacher vieles schuldig. Er musste ihm geradezu dankbar sein für den Kontrast, der es erlaubte, eine Politik der verschlagenen Bürgerlichkeit urplötzlich mit einer kecken Moralphysiognomie auszustatten, die in ihrer melodramatischen Hybris zuweilen so lächerlich wirkte, dass von der eigentlichen Tragik des Vorgangs wenig zu spüren war. Der Demagoge Le Pen als Kronzeuge des Demokraten Chirac, dessen politisches Leumundszeugnis über keinen Zweifel erhaben ist. Die Wahl als Waschzuber für die schmutzige Wäsche des Elysée. Auf Dauer oder schon bald wird der Aussatz wieder durch die republikanische Toga schimmern, aber wen kümmert es? Den Untersuchungsrichter Halphen selbstverständlich. (Oh tapfere Kur des Guten an dem rettungslose verkommenen Bösen!) Die Wähler des Front National freilich auch. Sie dürften sich schon bei den Parlamentswahlen im Juni wieder bemerkbar machen, ihre Kandidaten hier und da in die zweite Runde schicken, auf dass sie sich möglicherweise mit den gaullistischen Bewerbern arrangieren wie schon bei den Wahlen von 1997 oder den Abstimmungen in etlichen Regionen 1999. Vielleicht ist die republikanische Erschöpfung nach dem 5. Mai noch zu groß, um sich neuen Strapazen auszusetzen. Und der Präsident - von einer Mehrheit legitimiert wie noch kein Staatschef der V. Republik - kann von Amtswegen sagen, alles geschehe nur, weitere Aufgüsse der Cohabitation zu meiden. Die habe schließlich das System in Misskredit gebracht und Le Pen so viele Stimmen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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