Res publica in ganz Europa

Je suis Charlie Als millionenfach Einzelne demonstrierten die Menschen in Europa, was eine Republik ausmacht: Alle sollten an ihr teilhaben dürfen
Ausgabe 03/2015
Eine Mutter trauert mit ihrer Tochter in Paris
Eine Mutter trauert mit ihrer Tochter in Paris

Foto: Patricia de Melo Moreira/ AFP/ Getty Images

Republik leitet sich vom lateinischen res publica ab: die öffentliche Sache. Öffentlich ist das Gegenteil von verborgen. Und wenn das Absichtsvolle in diesem Wort vermieden sein soll, kann man es auch so sagen: das nicht für jederman Erkennbare, Einzuschätzende, Beeinflussbare. Wie mit dem Aufkommen der Philosophie die Figur des Weisen ins Abseits geriet, weil nun alles diskutiert wurde, so trat an die Stelle der Monarchie, in der ein einziger bestimmt, die Republik, in der alles grundsätzlich von jedem Einzelnen mitentschieden werden sollte. Für beide, den Philosophen wie Sokrates und den Politiker wie Cato, war die Redewendung: „Davon verstehst du nichts, da darfst du nicht mitreden“ einfach nicht statthaft.

In Frankreich haben Millionen Menschen während der letzten Tage genau dieses Prinzip der Welt vor Augen geführt. Hunderttausende in anderen Ländern Europas haben es ihnen gleich getan und gegen Gewalt und Terror protestiert. Das Besondere an ihrem Auftreten war, dass sie zu Vielen wurden, weil sie Einzelne waren. Sie waren nicht als Parteimitglieder, Verbandsfunktionäre oder Vereinsleute gekommen. Sie erschienen nicht unter dem Banner ihrer Bewegungen, Kirchen oder Interessengruppen. Die meisten Schilder, die sie zeigten, trugen die Aufschrift: „Je suis Charlie“ – „Ich bin Charlie“. Als Einzelne schufen sie Öffentlichkeit. Als millionenfach Einzelne demonstrierten sie, was eine res publica, was eine Republik ausmacht.

Massenversammlungen – gern auch als Aufmärsche organisiert – hat es in der Geschichte viele gegeben, gerade auch im zurückliegenden 20. Jahrhundert. Beliebt sind sie in Diktaturen, wo das erzwungene „Wir“ den Einzelnen auslöschen soll, wo Individualität als etwas Schimpfliches gilt. Man kann diesen Typ von Massenauftritten heute noch auf Bildern aus Nordkorea betrachten. In Deutschland funktionierte das nach der Formel „Du bist nichts, Dein Volk ist alles.“

Die Auftritte der Pegida-Leute in Dresden propagieren das Ziel: Dieses Volk muss für sich bleiben – andere sollen nicht dazugehören. Die werden als Bedrohung des kollektiven Eigenen empfunden. Das ist eingeschränkte Öffentlichkeit. Es ist übrigens das Gegenteil von dem Ruf der Leipziger „Wir sind das Volk“ aus den Tagen der friedlichen Revolution 1989. Das „Wir“ stand damals für „alle“. Alle sollten an der Republik teilhaben, jeder Einzelne. Es gibt Augenblicke in der Geschichte, die sind lehrreicher als jeder Gemeinschaftskundekurs und jede Vorlesung in Politikwissenschaft: Paris, Januar 2015.

Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft

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