A
Altstoffe Jeden dritten Sonnabend fuhren mein Bruder und ich mit einem Packen alter Zeitungen auf dem Gepäckständer und leeren Flaschen im Netz zu SERO (das ist die Abkürzung für VEB Kombinat Sekundär-Rohstofferfassung). Bei unserer Annahmestelle in Berlin-Lichtenberg, für uns nur „Altstoffhandel“, reichten wir Glas und Papier (➝ Papierfresserin) durch ein offenes Fenster, hinten im Hof wurde alles gesammelt.Die 40 Pfennig konnten wir behalten. Manche nahmen Zeitungen mit in den Kindergarten. Es gab die Altstoffsammelaktionen der „Jungen Pioniere“, die mit kleinen Wagen von Haus zu Haus zogen und Zeitungspapier, Gläser und Flaschen einsammelten. Der Liedermacher Kurt Demmler schrieb den Song dazu: „Hab’n se nicht noch Altpapier, liebe Oma, lieber Opa, klingelingeling ein Pionier, klingelingeling steht hier ein roter...“ Einnahmen wurden häufig als Soli-Beitrag gespendet: Grün sein und Ärmeren helfen, es hat funktioniert. Maxi Leinkauf
B
Bonus Kühlschrank, Wasserkocher oder Fernseher: Wer in Thüringen künftig seine Elektrogeräte reparieren lässt, statt sie zu verschrotten, bekommt einen Bonus ausgezahlt. Damit will die Landesregierung dem steigenden Aufkommen von Elektroschrott entgegenwirken – bundesweit nimmt dieses jährlich um fünf Prozent zu. Deutschland hat mit 19 Kilo pro Einwohner 2019 weltweit einen Spitzenplatz eingenommen. Bis zu 100 Euro pro anno können sich Thüringer zurückerstatten lassen. Die Reparaturrechnung können sie ganz einfach auf einer Webseite hochladen. Umweltministerin Anja Siegesmund begründete den Schritt auch mit einer Anekdote: Ihre Kloßpresse aus DDR-Zeiten würde noch hervorragend funktionieren, während sie schon mehrere Geräte von Westmarken verschlissen habe. Klöße und Nostalgie, das zieht in Thüringen immer. Tobias Prüwer
D
Der Dämliche Rest Es war mal eine der spöttischen Erklärungen für die Abkürzung DDR. Die Resteverwertung Ost verlief nach dem Beitritt – manche nannten das satirisch „Breittritt“ – lieblos und manchmal durchaus auch dämlich: Bloß nichts Nachhaltiges (➝ Altstoffe) retten, schien der Wahlspruch zu sein, bloß nichts nutzen, was durch Indoktrination kontaminiert sein könnte. Sinnvollen Einrichtungen erst mal „den Rest geben“. Zum Trost Ampel- und Sandmännchen bewahren und darauf Club Cola trinken.
Nach und nach setzten sich vernünftige Kräfte durch, die die Resteverwertung Ost ins Pragmatischere wendeten. So sind Ärztehäuser und Polikliniken vielfach wieder da, weil sie sich bewährt haben. Wir haben jahrelang die Verkaufsausstellung OSTPRO besucht, die manche vertrauten Produkte der Vergangenheit wieder anbot. Manchmal musste ich lachen, auch in der DDR wurde ein Haufen Krimskrams vertickt. Ich vermisse besonders die Kunstledermäppchen mit Kamm und Spiegel, die fast in jeder gekauften Handtasche mitgeliefert wurden. Die gibt’s nicht mehr. Wenn da noch jemand Reste hat … Magda Geisler
E
Einpacken Wer seinen Teller im Restaurant nicht leer essen kann, steht vor der moralischen Frage: in die Küche zurückschicken oder einpacken lassen? Wurde die Frage, ob man ein Doggy Bag für die Reste bekommen könne, früher meist mit gerümpften Nasen quittiert, sind Boxen zum Mitnehmen heute Standard, selbst in schickeren Etablissements. In den USA existieren sie schon viel länger, da waren die Portionen einfach zu groß, als dass ein ausgewachsener Mensch sie schaffen konnte. Anstandsreste sind, anders als in China, in unseren nachhaltigen Kreisen des Westens mittlerweile verpönt – nicht nur in Restaurants. Frankreich hat 2016 Supermärkten verboten, Lebensmittel wegzuwerfen. Ben Mendelson
F
Flur Sollte es mich beunruhigen, dass die Person, die vermeintlich „Brauchbares“ im Flur abstellt, eine Einzelperson ist (➝ Nebenan)? Seit zwei Wochen steht im Flur eine Piñata, ein Einhorn, dem die Süßigkeiten schon rausgeprügelt wurden. Der Sohn erlaubte sich einen sinistren Scherz mit seinem Bruder, er „schenkte“ ihm das leere Tier, weshalb das Einhorn bei uns landete. Neulich standen dort zwei Fläschchen geöffneter Nagellack, unter anderem in der Modefarbe Grau. Gestern „Mediterrane Gewürzmischung“ einer Discountmarke (ich habe extra nachgeschaut). Die vertraute Mischung aus Fett und Staub auf dem Glas hätte ich ja abgewischt. Katharina Schmitz
K
Kompost Diese Technik ist uralt – bereits antike römische Autoren beschrieben Formen des natürlichen Abfallrecyclings. Eigentlich ist es ganz leicht, die eigenen Küchen- und Gartenabfälle (➝ Suppe) in Dünger zu verwandeln: rein in den Behälter, für ausreichend Belüftung sorgen, warten, fertig. Wäre da nicht die Frage nach den Eierschalen. Ob diese in den Kompost dürfen, wird heiß diskutiert.
Von Landkreis zu Landkreis variieren entsprechende Hinweise der Versorgungsbetriebe. Die seien nicht organisch, sondern mineralisch, heißt es da. Und sie könnten den Kompost mit Salmonellen verseuchen. Andere sagen, das sei sehr unwahrscheinlich und Schalen ließen sich leicht zerbröseln, weil sie aus Kalk seien. Vielleicht muss man würfeln. Das Beste übrigens am Kompost: Man braucht gar keinen eigenen Garten. In sogenannten Wurmkisten verwandeln Regenwürmer Reste zu Eins-a-Dünger – die haben auch in Wohnzimmern Platz. Tobias Prüwer
N
Nebenan Unter uns Konsumkritikern gilt es nun mal als tugendhaft, sich der Wegwerfgesellschaft zu widersetzen ( ➝ Einpacken). Aber selbst die tugendhaftesten Haushalte füllen sich unweigerlich mit Klamotten, Geschirr und Kleinelektronik, also mit Dingen, die man lieber nicht mehr hätte, von denen man aber gerne glauben möchte, dass jemand anders sie womöglich gut gebrauchen könnte.
Früher gab es auf jedem Flohmarkt die „Schammelecke“, wo meist Kinder mit frühreifem Geschäftseifer das eine Set Doppelkopfkarten oder den wirklich noch voll funktionstüchtigen Milchaufschäumer für einen Euro anboten. Heute gibt es Portale wie nebenan.de, wo Menschen mit an Verzweiflung grenzender Hartnäckigkeit ihre zwei Tassen (Ikea), den süßen himmelblauen Angora-Pullover (Benetton) oder eine Wollmütze (sic) anbieten. Kollegin K. meint, da ginge es gar nicht um Resteverwertung, es handle sich um verkappte Dating-Portale. Sie wird recht haben. Barbara Schweizerhof
P
Papierfresserin Sie kennen das: Die Zeitungen stapeln sich im Flur und man rast zur Papiermülltonne. Knackevoll! Es gibt Leute, die den Zeitpunkt auslinsen, wenn die Entsorger davonrollen. Ich dagegen trenne mich schwer von Papier. Als Papierfresserin wurde ich gefüttert mit den bunten Bögen, die bei den Verwandten in der Papierfabrik abfielen. Zeit meines Lebens habe ich Archive angelegt mit Handbeschriebenem und Ausgedrucktem, keine leere Blattseite wandert in meinen Papierkorb. Gelegentlich, wenn es knapp wird, stibitze ich die Fahnen, die im Redaktionsalltag so anfallen. Der Blick auf den Papierhintern erinnert mich oft an alte ➝ Titel des Freitag. Manche wurden realisiert, manche werden Sie nie zu Gesicht bekommen. Ulrike Baureithel
S
Suppe Die klassische Form der Resteverwertung: Was vom Vortag übrig ist, kommt am folgenden in einen Topf. Ganz einfach: Zwiebelwürfel in Butter dünsten oder in Öl, die „Reste“ dazu, mit Wasser und gekörnter Gemüsebrühe oder mit Liebstöckel (➝ Flur) aufkochen. Das Ganze kann man mit Mehl andicken oder mit Instant-Kartoffelbrei aus der Tüte. Am Schluss pürieren und einen Klecks saure Sahne oder Schmand dazu. Auch das Grün von Radieschen, Kohlrabi und so weiter lässt sich so verwenden. Und natürlich diverses „Unkraut“ aus dem Garten: Sauerampfer, Brennnessel, Löwenzahn, Guter Heinrich und allem voran der Giersch. Kaum auszurotten, weil er sich mit seinen unterirdischen Trieben überallhin verbreitet. Irmtraud Gutschke
T
Titel Als Gestalterin zehre ich von Entwürfen, die ich für vergangene Freitag-Titel gemacht habe. Im Team zerbrechen wir uns jede Woche den Kopf, wie ein Thema passend gezeigt werden kann. Je nach Einfallsreichtum werden es zwischen fünf bis 20 Entwürfe. Es gibt Strategien: Zeigen wir eine Person? Können wir ein Filmplakat remixen? Gewisse Themen kehren immer wieder, weil sie dem Freitag wichtig sind – wie Ungleichheit und Klimawandel. So wird in einer Titelkonferenz gern noch einmal die alte Entwurfsreihe dazu hervorgeholt. Aber keine Sorge, Sie bekommen nicht die B-Ware (➝ Flur) zu sehen. Ein alter Entwurf braucht im Redesign genauso viel Liebe wie ein neu erdachter. Susann Massute
V
VW-Bus Woran erkennt man deutsche Urlauber? Handtücher auf der Liege, Beschwerden über die Brotqualität im Ausland – und am VW T 1 auf dem Campingplatz. Der Hippie-Bus von Volkswagen steht seit Jahrzehnten für Alternativreisende. Warum die in die Jahre gekommenen Gefährte nicht mehr nutzen? Wobei: T 1 und Co. schlucken im Vergleich zu neueren Modellen deutlich mehr Kraftstoff.
Die Ökobilanz der Hippie-Kutsche kann mit grüneren Neuwagen – geschweige denn Bahnfahrten – nicht mithalten. Solche Ambivalenzen gehören zu unserem (nachhaltigen?) Konsum. Wer etwa aus ethischen Gründen auf Kuhmilch verzichtet, aber dann Reis- oder Mandelmilch trinkt, ignoriert die Umweltfolgen: Die meisten Mandeln kommen aus kalifornischen Monokulturen. Diese sind extrem wasserintensiv. Um die Bestäubung der Mandelbäume zu gewährleisten, werden jährlich Milliarden Bienen auf den Plantagen verteilt. Diese industrielle Bienenhaltung gilt als Mitverursacher des Bienensterbens. Ben Mendelson
Z
Zwangsneurosen Auch Partner sollen nicht welken. Das wusste schon Roger Willemsen, der einer Liebesbeziehung eine Spannungsdauer von maximal zwei Jahren attestierte. Recht hatte er in mehreren Realitätsachsen. So sind die Achsen Urlaub (Wohnortferne), Beziehungsdauer und Intensität des wahren Kennens auch die Grundlage für Martin Parrs Fotoserie Bored Couples (googeln, lachen, Eigen- und Fremdscham empfinden). Paare am Rande des indikativen Ausverkaufs ihres selbstbe- aber bisher nicht ergründeten Daseins. Im Spätkapitalismus will man nicht verwelkt wirken. Hybrid Willemsen hatte das erkannt. Die Steigerung der Intensität soll die Bewusstmachung des eigenen Daseins noch erlebbarer machen, wie der Philosoph Tristan Garcia in seinem Buch Das intensive Leben erläutert. Willkommen zur Zwangsneurose der ewigen Erneuerung! Jan C. Behmann
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