Restmüll des Fleischlichen

GESCHLECHTER Der Kulturtheoretiker Hartmut Böhme über Körper und Sexualität im Cyberspace

Body-Building, Fitness und Wellness, plastische Chirurgie - unablässig wird in unserer Gesellschaft die Arbeit am Körper, an der Korrektur des "Unregelmäßigen" und "Abweichenden" vorangetrieben. Ultimative Makellosigkeit und Perfektionierung des Leibes verheißt die Biotechnologie, ungeachtet ethischer Bedenken zielt sie auf die planvolle Menschenschöpfung. Die Erscheinungen der "Körper-Kultur" verarbeitet vielfach auch die Kunst - indem sie die Fetischisierung des Leibes zu ihrem Thema macht, aber auch ihn als letztes Elementares, als einen Fluchtpunkt angesichts seiner Auflösung im Imaginären untersucht und deutet.

Denn die Medien, vor allem die Kommunikationstechnologien entwirklichen die Physis, sie wird ungreifbar, verliert sich in der Mittelbarkeit von Bilderwelten, die sie zugleich in ihr Zentrum stellen. Der Prozess der Entkörperlichung hat in den unendlichen Räumen des Cyberspace eine neue Qualität erreicht, er bezeichnet den endgültigen Abschied von der sinnlichen Präsenz des Körpers, der sich in der Virtualität des World Wide Web verliert.

Hartmut Böhme hat mehrere Beiträge zu den gesellschaftlich-kulturellen Erscheinungsweisen, Wirkungen sowie religiösen Bedeutungsformen des Cyberspace veröffentlicht und zusammen mit seinem Bruder Gernot ein viel beachtetes Buch über Kant (Das Andere der Vernunft) herausgebracht. Er lehrt an der Humboldt-Universität Kulturtheorie mit den Schwerpunkten Mentalitäts- und Religionsgeschichte.

Freitag: In den von der westlichen Kultur geprägten Gesellschaften lässt sich ein zunehmender Körperkult beobachten. Zugleich wird durch das World Wide Web die menschliche Physis in Formen von Immaterialität aufgelöst, in mancher Hinsicht vielleicht auch verwandelt. Ist das unsere Gesellschaft durchdringende Bedürfnis nach der Herstellung von "Körper-Designs" ein letzter, womöglich ohnmächtiger Reflex auf die Verflüchtigung realer Leiblichkeit?

HARTMUT Böhme: Sie sprechen im Grunde zwei sich widersprechende Tendenzen in der heutigen Kultur an und diese haben eine Reihe von historischen Vorläufern, insofern man sagen kann, dass innerhalb der christlichen Tradition immer schon darauf gesetzt wurde, dass der Körper überstiegen, verlassen und in Hinblick auf ein eigentlich und wesenhaft spirituelles Sein überschritten werden sollte, während von der griechischen Kultur her immer eine stärkere Körper- und Sinnenbetonung vorhanden war. Diese beiden Tendenzen sind in der Kulturgeschichte in wechselnden Konjunkturen immer wieder zu beobachten, wobei man wohl für heute sagen kann, dass beide nebeneinander präsent sind. Der Körperkult, den Sie angesprochen haben, hat sicherlich damit zu tun, dass jedenfalls in den urbanen Zonen der Gesellschaft so etwas wie Körperarbeit mehr oder weniger marginal geworden ist, und auch selbstverständliche körperliche Vollzüge, die zu traditionellen Gesellschaften gehören, kaum mehr vorkommen, so dass überhaupt körperliche Tätigkeit gewissermaßen künstlich stilisiert oder inszeniert werden muss. Es müssen dafür eigene Sektionen in der Gesellschaft geschaffen werden, damit der Körper überhaupt in eine Mobilität kommt. Weil das Gewöhnliche des Körpers in unseren heutigen Arbeits- und Lebensformen die stillgestellte immobile Position ist, und das heißt natürlich auch, dass alle jene Erfahrungsquellen, die der Körper hergibt - durch sein Selbstgefühl und durch seine vielfältigen sinnlichen Kontakte mit der Umwelt-, dass diese Erfahrungen rückläufig sind und von daher kompensatorische Bedürfnisse bestehen, sich des Körpers und seiner Potenzen wieder zu vergewissern. Dafür sind alle diese körperkultischen und körperpflegenden oder perfektionierenden Tendenzen sicherlich ein Beispiel. Wobei man auch sagen kann, dass natürlich in der gegenwärtigen Gesellschaft ein massiver Druck auf Jugendlichkeit und strahlendes, altersloses, fittes Aussehen vorherrscht, dass in vieler Hinsicht diese Körpertrimmings, die gemacht werden, gar nicht dem Ziel dienen, eine kompensatorische Wiedergewinnung des Körpers zu erlangen, sondern vielmehr ein instrumentelles Verhältnis zum Körper sich damit verbindet. Er ist ein Mittel zum Zweck, nämlich zum Zweck der Darstellung innerhalb der verschiedenen sozialen Bühnen, in denen er als ein nahezu modisches Kapital präsentiert wird, und auch das wäre für mich etwas, das man eigentlich eine körpereigene Erfahrungskultur nennen könnte.

Dem Zusammenhang einer Tendenz zur zweckhaften Ästhetisierung zugehörig ist - wenigstens zum Teil - auch die avancierte Medizintechnik, vor allem die Genforschung, die den Körper quasi nach vorgegebenen Programmen zu modellieren versucht.

Diese Elemente der Biotechnologie, die breiten Bereiche der Prothetik, Kosmetik, der Schönheitschirurgie und so weiter, das gehört natürlich zu diesem Typus des Körperstylings, des Plastizierens des Körpers nach bestimmten Vorbildern, die durch Werbung und die Lifestylemagazine geprägt werden, aber es steckt auch etwas Grundsätzliches darin: dass im Augenblick die Hochleistungsmedizin und die Biotechnologie gewissermaßen an den natürlichen Grenzen unseres körperlichen Daseins herumexperimentieren, also der Reproduktion, Zeugung und Geburt, und zum anderen am Tod. Wir haben eine neue Todesdefinition mit dem Hirntod und wir haben tiefe Eingriffe in die natürlichen Vollzüge von Zeugung und Geburt, beide Seiten werden technisch durchdrungen und zunehmend manipuliert. Das heißt, dass wir im Augenblick an dem, was über jahrtausendelang hin gewissermaßen das ontologische Fundament des Lebens im Fleische bedeutete, dass diese Grenzen als Provokation, ja auch als Hindernis begriffen werden im Blick auf eine möglichst technische Beherrschung zum Zwecke auch der Herstellung einer von Natur her möglichst unberührbaren Leiblichkeit. Diejenige Leiblichkeit, die am allerunberührtesten durch die Zeiten der Natur ist, die sich immer in den Formen von Krankheit, Alter, Verfall, Sterbenmüssen, Tod ausdrücken, ist natürlich die spirituelle Leiblichkeit, also die Kreierung einer Körperform, die überhaupt sich loslöst aus dem fleischlichen Körper und sich mediatisiert, nämlich in Stilisierungen ausdrückt, die durch die neuen Cyberspacetechniken möglich werden, worin der Körper in seiner fleischlichen Begrenzung überschritten, wenn nicht gar negiert wird.

Es gibt Anzeichen für die Flucht aus dem eigenen Körper, eine Abstreifung der Triebnatur im Cybersex, Visionen der künstlichen Intelligenz bis zur Ektogenese, also der außerkörperlichen Zeugung und Geburt. Es findet ein Kampf gegen die Kreatürlichkeit und letztlich die Sterblichkeit statt. Bewegen wir uns auf eine "transhumane Realität" zu, einer Abschaffung des widersetzlichen, hinfälligen Leibs?

Der hinfällige Leib wurde nun in der Kultur- und Religionsgeschichte immer schon als eine Quelle des Leidens verstanden, und Religion ist eine der großen Anworten darauf, nämlich dass man Unsterblichkeitsangebote macht, die allerdings immer auf der Respektierung von Geburt und Tod basierten. Insofern musste Unsterblichkeit als Gnade geschenkt werden, nämlich jenseits des Todes und dafür musste es ein überirdisches transhumanes Wesen geben, nämlich Gott, also waren diese Unsterblichkeitsmodelle alle auf Körperleiden und Todesangst bezogen und die Religion hatte Trostfunktion und die Aufgabe, von diesen Ängsten zu erlösen und diese Sehnsüchte zu befriedigen. Das ist also alt, neu ist, dass dafür Techniken entwickelt werden, oder Versprechen im Medium der Technik der Gesellschaft implementiert werden, nämlich jene magischen Versprechen des Cyberspace oder der tiefgefrorenen Bestattung oder der Weltraumbestattung, worin natürlich nicht wirklich Unsterblichkeit erreicht ist. Unsterblichkeit ist ja real nicht erreichbar. Immer ist Unsterblichkeit ein Phantasma und es kommt darauf an, gesellschaftliche Phantasmen so zu etablieren, dass darin Menschen eine Faszination und Befriedigung erfahren, und das bieten solche Techniken, wie diese Bestattungstechniken genauso wie auch bestimmte Formen der Beerdigung im Cyberspace.

So ist neben Religion auch die Kunst immer ein Medium gewesen, Sterblichkeit zu überwinden, und heute bietet der Cyberspace gewissermaßen eine Art Massenmedium an, wo man in einer Sphäre des Immateriellen die lebendige Energie seiner selbst investieren und darum Erfahrungen machen kann, in jedem Fall in einer transformierten Figuration des eigenen Selbst eine Art des zweiten Leben schaffen kann. Dieses Moment, das man sich selbst in eine andere Sphäre hinein transfiguriert und dort wiederum in bestimmter, aber veränderter Weise existiert, das ist ja etwas, womit ja auch die Religion zu tun hat, und deshalb gibt es bestimmte Strukturähnlichkeiten zwischen den Phantasmen von Cyberspace und den klassischen Aufteilungen der Welt in irdische und immaterielle Sphären, die der klassischen Jenseitstopografie entspricht.

Was bedeutet diese Entwicklung zum sich stets verwandelnden, umschaffenden Selbst im imaginären Raum für die personale Identität und die körperliche Selbstwahrnehmung? Angesichts der digitalen Ortlosigkeit im World Wide Web schwindet ja auch die Raumgebundenheit des Körpers?

Der Körper bindet uns an ein Hier und Jetzt und unterwirft uns in einer strikten Weise an Raum und Zeit. Die Cybertechnologien haben ihren Sinn ja gerade darin, dass mit Lichtgeschwindigkeit gearbeitet wird, also mit dem Absoluten schlechthin. Und zum Zweiten ist die Struktur des Mediums eine, die man Dislokation nennen kann, also eine Art Enträumlichung, weil der Cyberspace ein imaginärer, ein immaterieller Raum ist, der keiner Dimensionierung unterliegt, und weil, wer wann wo ist, eigentlich keine Rolle spielt, sowohl im Hinblick darauf, wer der Nutzer ist, wie darauf, wo er ist. Dieses Moment der Dislokation ist strukturbildend für den Cyberspace, und wenn man andererseits das Arbeitstempo der transhumanen Maschinen, des Computers betrachtet, nämlich in welchem Tempo er arbeitet, also etwa jener Deep Blue, der den Schachweltmeister Kasparow schlagen konnte, weil er 200 Millionen Rechenschritte in einer Sekunde absolvierte, dann sind das Tempi, die jenseits alles Menschlichen liegen, und deshalb kann man sagen, dass sowohl die Raum- wie die Zeitform des Cyberspace transhuman ist. Manchen erscheint es so, als ob das sich Hineingeben in ein solches Medium etwas wie eine Partizipation an dieser Raum- und Zeitlosigkeit erlauben würde. Das ist natürlich eine Illusion, aber Religionen waren das auch, es kommt nur darauf an, wie es gesellschaftlich plausibel und evident gemacht wird, und je höher die Illusionspotenziale multimedialer Art im Cyberspace werden, und sie werden immer besser, und in 10 Jahren das absolut Mehrfache der heutigen Plausibilität haben, kann man sagen, dass wir eine neue Kulturtechnik haben, die uns in einer bestimmten Weise über lange Strecken des Tages oder auch der Lebenszeit von jenem Raum und jener Zeit trennen werden, die Raum und Zeit unseres Körpers ist. In einer zeit- und raumlosen Sphäre werden wir wesentliche Teile unseres Lebens verbringen, und das bedeutet für die Identität, dass wir binär organisiert sein werden. Wir müssen ja immer wieder in unseren Körper zurückkommen, das wird so eine Art Residualraum sein, ein Restmüll des Fleischlichen im Verhältnis zu jenen Hochglanzsphären des Cyberspace, und wir werden auch innerhalb der materiellen Gesellschaft in völlig unterschiedlichen Sphären operieren, so dass heute viele mit Recht sagen, dass die Identitätsstruktur, nämlich die eines integralen Ich, ohnehin in Auflösung begriffen ist und die Zukunft unserer Ich-Struktur eine multiple, funktionale, im Grunde identitätslose sein wird, also das Modell realisiert, das Robert Musil schon in seinem "Mann ohne Eigenschaften" dargestellt hat.

Werden wir Sexualität auf Distanz erleben, als Telekopulation und biokybernetisch technisierte, sensorische Sensation, in der man sich einen Datenanzug über den Körper wie eine zweite, künstliche Haut legt, einen muskulären und nervalen Interface?

Die rein körperliche Sexualität hat den Menschen nie genügt, insofern haben sie ja immer schon zu Hilfsmitteln des Imaginären, der kulturellen Stimulanzien gegriffen, so als ob das, was der Körper hergibt an Lust, nie ausreicht, das hat ja etwas mit der menschlichen Sexualität zu tun, die eine gewisse strukturelle Unersättlichkeit hat und insofern von derselben Struktur wie das Dasein überhaupt ist; sie ist in einem ununterbrochenen Prozess der Selbstüberschreitung begriffen. Und es ist darüber hinaus für die menschliche Sexualität auch so gewesen, dass neben den eigentlich erogenen Zonen das Gehirn immer das größte Sexualorgan war, und wenn man jetzt das Imaginäre, das Gehirn, zusammenschalten kann mit den Cyberspacetechniken in der Sphäre der erotischen Datenbelegung, wird hier eine Sphäre kreiert, wo, noch massiver als im Bereich der pornografischen Literatur oder des Films oder der Fotografie, eine Verkoppelung von Imagination des Gehirns, von Lust und Medium passieren wird. Das heißt, dass man im Verhältnis dazu natürlich fragen kann, welche Zukunft hat unter Aidsbedingungen noch die reale körperliche Liebe, und ist nicht das, was hier versprochen wird vom Cyberspace, ein gewissermaßen sauberer Sex, Safer-Sex, gegenüber jener risikoreichen Form der körperlichen Vollzüge, die immer auch in ihrer Verwicklung Lust und Gefahr bedeuten, weil da auch etwas angestreift werden könnte von jenem Schmutz, den der Körper schon immer bedeutet hat.

Anonymität und Distanz des "Chattings" schaffen neue Identitäten, multiple, beständig wechselnde Schatten-Ichs. Wird der Restposten einer zurechenbaren, verantwortlichen Individualität - der nach Dekonstruktion, radikalen Konstruktivismus und postmoderner Beliebigkeit verblieben ist - zum ungreifbaren, fluiden Nichts und Alles?

Eine Prognose überzeugend zu begründen fällt schwer. Es ist so, dass eine Entlastung von Momenten der Verantwortlichkeit, der Zuständigkeit für soziale Beziehungen und auch Gefühle natürlich, immer ein Versprechen ist, auch ein Wunsch. Man möchte etwas loswerden von diesen Verbindlichkeiten, und dafür sind die Spielformen der Beziehungen und des Sex und des Flirts, den der Cyberspace anbietet, sehr geeignet. Der Punkt ist nur, welche Nachhaltigkeit der Befriedigung dadurch erzielt wird, und darüber hinaus lässt sich schwer etwas sagen, weil wir ja auch von uns selber wissen, dass wir durchaus wechseln zwischen Sphären, in denen wir sehr starke Verantwortlichkeit zeigen und zeigen wollen, und solchen Sphären, in denen wir entlastet sein wollen, spielen und experimentieren, ohne immer haftbar gemacht zu werden für das, was man da gerade tut. Diese Zunahme des Phänomens des Spielerischen, des Ludischen durch Cyberspace, kann die Verstärkung eines alten Elements von Kultur überhaupt sein. Es gibt keine Kulturen ohne diese spielerischen Elemente, die Kulturen würden an ihrem Ernst geradezu zu Grunde gehen, wenn es nicht diese Sphären gäbe. Mithin muss es gar nicht dazu kommen, dass die Zunahme des Ludischen etwa durch den Cyberspace und die Ausbildung von Verantwortlichkeit in einen Widerspruch geraten. Es ist sehr wohl möglich, dass nach Dekonstruktivismus und radikalem Konstruktivismus sich in ganz wenigen Jahren eine so genannte ethische Wende der Philosophie, die ja beim Dekonstruktivismus, nämlich bei Derrida schon festzustellen ist, ein neuer Humanismus, eine Rückwendung auf die andrologischen Fundamente des Menschen abzeichnet. Es ist also keineswegs gesagt, was manche Cybertheoretiker guruhaft beteuern, dass der Mensch abgeschaltet, ausgeschaltet, zum alten Eisen der Geschichte geworfen wird, es kann sehr gut sein, dass das eine vollkommene Täuschung ist, es vielmehr eine große Resistenz innerhalb der Kultur gibt, was die Verteidigung ihrer anthropologischen und moralischen Substanzen angeht.

Das Gespräch führte Uwe Sänger

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