Eine Protestbewegung wie die der „Gilets jaunes“ (gelbe Warnjacken) entzündet sich oberflächlich gesehen an Benzinpreiserhöhungen. Aber sie agiert wie am vergangenen Wochenende auf den Pariser Champs Élysées nicht unter dumpfen Staubürger-Parolen wie „Benzinwut“, sondern mit politisch artikuliertem, rational unterlegtem Zorn über den „Reformer“ Emmanuel Macron, der seinem Ruf als Präsident der Reichen mit jeder Reform gegen die Nicht-Reichen gerechter wird. Wer da auf „Benzinwut“ oder „Wut aus dem Bauch“ erkennt, meint das Gegenteil eines politisch motivierten Aufruhrs, für den die in Frankreich gerade Protestierenden ebenso gute wie einsichtige Gründe haben. Sie ergeben sich aus dem Unmut und der Empörung über eine sich verschlechternde soziale Lage und die schwindenden Chancen, daran etwas zu ändern.
Präsident Macron und Gerald Darmanin, der Minister für öffentliche Finanzen, versprachen noch vor knapp einem Jahr einen Kaufkraftzuwachs für alle, wofür Steuernachlässe und Reformen sorgen sollten. Zwar gibt es 2018 tatsächlich einen Kaufkraftschub von 1,3 Prozent, über das Jahr gerechnet, doch handelt es sich um ein statistisches Phantom, das mit den tatsächlichen Lebensverhältnissen breiter Schichten so gut wie nichts zu tun hat.
Grobianische Provokation
Die Definition von Kaufkraft reflektiert einen rechnerischen Mittelwert, der elementare Ungleichheiten glattbügelt – etwa die Disparitäten zwischen Stadt und Land, zwischen Paaren mit Kindern und ohne, zwischen Ehepaaren und Alleinlebenden, zwischen Mietern und Hauseigentümern, um nur die wichtigsten Gegensätze zu nennen. Und es zeugt von Blindheit für ein vorhandenes soziales Gefälle, wird dabei nicht der simple Umstand zur Kenntnis genommen: Wenn Kaufkraft statistisch steigt, heißt das nicht, dass wirklich alle davon profitieren. Gleiches gilt für Macrons Steuerreform. Bei 23 Prozent der Franzosen am unteren Ende der Einkommensskala – Alleinstehende, die weniger als 14.370 Euro, und Paare, die weniger als 29.960 Euro im Jahr verdienen – verringerte die Reform das verfügbare Einkommen. Hinzu kommt im ganzen Land die Wirkung steigender Preise: plus 10,9 Prozent bei Butter, plus 11,2 bei Kartoffeln, plus 30,4 bei Energieträgern wie Heizöl, plus 22,6 bei Diesel und plus 14,6 bei Benzin. Entscheidend für sozial höchst unterschiedliche Auswirkungen bei der Kaufkraftentwicklung ist zudem der Anteil von Wohnkosten an den Haushaltsausgaben. Er liegt derzeit in Frankreich für Arme bei 37, für die unteren Schichten bei 21, für die Mittelschicht bei 13 und die Oberschicht bei sechs Prozent.
Allein diese Zahlen lassen erkennen, warum in einem Land, in dem jeder zweite Einwohner in einer Gemeinde mit weniger als 10.000 Einwohnern lebt, die Kosten für den Weg zur Arbeit, zu höheren Schulen, zu Ärzten, zu Hospitälern, zu Behörden, zu Post, Polizei, Sport, Kultureinrichtungen wie anderen Versorgungszentren den persönlichen Etat schwer belasten. 15 Prozent aller Franzosen stehen an jedem Monatsende tief in den roten Zahlen. Da wirkt es natürlich als grobianische Provokation, wenn der Hausherr im Élysée die Grundausstattung seines Palastes mit feinem Porzellan für 500.000 Euro erneuern lässt, was nur mit Scham quittiert werden kann.
Das flächenmäßig große, abgesehen von einigen Megaagglomerationen dünn besiedelte Frankreich, wo im Schnitt 113 Einwohner auf einem Quadratkilometer leben (in Deutschland 230), verzeichnet seit Jahrzehnten deutlich wachsende Mobilitäts-, Wohn- und Lebenshaltungskosten, vorrangig in der Provinz. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen sich stetig verstärkenden Druck auf die unteren Schichten und ärmeren Klassen, an die Peripherie der Städte oder aufs Land auszuweichen. Die Verdrängung der Alten, der einfachen Leute, der Zugewanderten und abhängig Beschäftigten – kurz: „der Franzosen von unten“ – durch die wirtschaftlich Erfolgreichen ins nähere und weitere Umland verlängerte in den zurückliegenden 60 Jahren die Arbeitswege mit einem frappierenden Tempo. Allerdings konnte der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs dem nicht folgen. Arbeits- und Wohnorte von Millionen Menschen entfernten sich mit einer Rasanz, die viele Berufstätige vom Auto abhängig machte.
Befördert wird dieser Negativtrend durch die im gesellschaftlichen System verankerte Tendenz des französischen Staates zur Zentralisierung. Der zerstörte, wie schon der Publizist und Politiker Alexis de Tocqueville (1805 – 1859) feststellte, auf politischer Ebene die „Pouvoirs intermédiaires“ (vermittelnden Mächte) und erschuf so zwischen Bürgern und Politik „einen riesigen leeren Raum“. Im Verkehrswesen führte der vorherrschende Zentralisierungstrend dazu, dass zwar gut miteinander verbundene regionale Zentren entstanden, in denen sich auch staatliche Bildungs- und soziale Versorgungsinstitute ansiedelten. Aber die Zwischenräume, das weite Land der Kleinstädte, Dörfer und Weiler – „la France profonde“ – verödete wirtschaftlich und sozial wie auch kulturell und mental. Ein forcierter Straßenbau nach dem Zweiten Weltkrieg förderte die Automobilindustrie und schuf dem Automobil einen privilegierten Platz im Verkehrssystem zulasten öffentlicher Verkehrsmittel.
Da ist es kaum überraschend, wenn gut 73 Prozent der Franzosen, also weit mehr als die von den Benzinpreiserhöhungen direkt Betroffenen, die Entrüstung über eine vernachlässigte Infrastruktur teilen. Die Erosion der öffentlichen und privaten Dienstleistungen beginnt nicht erst in der 100-Seelen-Gemeinde, sondern hat längst Kleinstädte erfasst, in denen riesige Einkaufszentren auf der grünen Wiese Lebensmittelhändlern, Bäckern, Metzgern und Fachgeschäften innerhalb eines Ortes jede Existenzgrundlage entziehen. Die urbane Verödung Frankreichs hat freilich nicht erst mit Emmanuel Macron begonnen. Der Geograf Christophe Guilluy warnt deshalb in seinem jüngsten Buch vor der kommenden „No society“.
Kommentare 10
öden, wüsten, weites land. =sporadische existenz im no-go-land,
wo fahren nötig ist. und das fahrrad wenig hilft.
wo nur mobilität gesellschaftlichen anschluß ermöglicht,
werden individuelle anstrengungen, zu märkten aller art zu gelangen:
sozial und ökologisch zum problem.
wo elektronische anbindung nicht aus-reicht,
brauchts politische lösungen.
der mangel muß kommuniziert werden,
dys-funktionales muß an die öffentlichkeit,
braucht aufmerksamkeit und ein publikum
gegen den funktionierenden geltungs-konsum der mächtigen.
Ich selbst lebe seit vielen Jahren in Südwestfrankreich etwa 100 km nordwestlich von Bordeaux entfernt in einer ländlichen Region mit nur etwa 20 Einwohnern pro km2. Hier gibt es keine Industrie, nur etwas Holzwirtschaft, Weinanbau und während 3 Monaten im Sommer Tourismus. Ohne Auto ist man tatsächlich ziemlich aufgeschmissen, obwohl es exzellente und sehr preisgünstige (2,2 Euro pro Fahrt) Busverbindungen nach Bordeaux gibt. Hier gibt es kein Problem mit Rechtsradikalen. Es gibt ein lebendiges Vereinsleben, Volkshochschule, kostenlose Bibliotheken, eine gute medizinische Versorgung. Nein, so trostlos wie es in diesem Artikel klingt, sieht es in vielen Regionen der französischen Provinz glücklicherweise nicht aus. Die meisten Menschen pflegen einen respektvollen, höflichen Umgang miteinander, sie wollen keine Revolution und stehen extremen politischen Parteien sehr skeptisch gegenüber. Tatsächlich hat Macron sehr viel Vertrauen verspielt durch seine dummen und respektlosen Bemerkungen gegenüber "einfachen Menschen". Er ist nicht verhasst, gilt jedoch als charakterlich unreif und arrogant, weswegen er wahrscheinlich nicht ein zweites Mal zum Präsidenten gewählt wird. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es Dank der "gilets jaunes" zu einer gewissen Richtungsänderung in der Steuerpolitik kommen wird mit einer höheren Belastung der Kapitaleinkommen. Ansonsten gibt es hier einen recht gut funktionierenden Sozialstaat und eine gute Kommunikation zwischen Bürgern und Kommunalpolitikern. Und tatsächlich ist es die Kommunalpolitik und Politik des Departements, welche für das tägliche Leben wichtig ist. Paris ist weit entfernt.
Vieles ist in der deutschen provinz nicht viel anders - wer das hautnah ausprobieren will, sollte in die heimatprovinz der kanzlerin, in die Uckermark, fahren...
Was mich aber dann doch verwundert ist die kaufkraftargumentation des autors. Wie bitte kann/muss mensch sich "einen Kaufkraftschub von 1,3 Prozent" erklären? Die kaufkraft, verstanden als die menge ware, die mit einer geldeinheit gekauft werden kann, kann in marktwirtschaften eigentlich nur steigen, wenn die preise fallen! Das hieße DEFLATION. Das wiederum würde über kurz oder lang eine heftige wirtschaftskrise führen, weil die unternehmen aufgrund der sinkenden preise weniger umsatz erzielten und zunehmend schwierigekeiten hätten, ihre kosten zu decken. Dazu käme, dass bei sinkenden preisen die verbraucher mit dem kaufen warten, weil sie hoffen, dass die preise weiter fallen...
Kann es sein, dass der autor statt von kaufkraftzuwachs besser und richtiger von reallohnwachstum sprechen müsste? Was heissen würde, dass die lohnzuwächse über der inflationsrate liegen...
"dass die lohnzuwächse über der inflationsrate liegen..." Sie treffen den Kern und das Ergebnis Deflation.
Wer kann dieses rücksichtslose wirtschaftliche Profitziel der Finanzelite noch verstehen und durchschauen?
In diesem Mittelmaß 1,3 % Kaufkraftschub stecken die aberwitzigen Konsumräusche der vielfältigen Finanzeliten incl. 500 000 € für das Palastprorzellan. Ein ungewollter Hinweis: Porzellan, weißes Gold?
Bei uns bietet sich eine "Immobilienelite" zur Beratung an, wie man z.Z. wertvolle Immobilien für 60% ihres Wertes kaufen kann!
Hoffentlich sind die Franzosen klüger als die gierigen Eliten aller Art und zeigen uns, was uns allen blüht, wenn wir nicht aufwachen.
Dass die astronomische Summe der nicht bezahlten Überstunden der arbeitenden Menschen bei uns nicht dem grenzenlosen Reichtum der Nutznießer gegenübergestellt und offengelegt wird ist so demagogisch wie damals Goebbels Schrei "wollt ihr den totalen Krieg?".
Es ist die Realität. Wollen wir den totalen Feudalismus incl. der damit verbundenen Kriege wieder haben?
Hören und lesen wir die christlichen Kampfansagen gegen Russland. Wieso droht unsere Politik nicht auch den USA, wenn ihre Regierung es ablehnt mit einem anderen Regierungschef zu reden? Warum sanktioniert Merkel die USA nicht und bleibt zu Hause?
Ja, wir haben unser Menschenbild zu reinigen, wir müssen den Humanismus wieder erkennen.
Es ist -möglicherweise- der Kommende Aufstand, den Das Unsichtbare Komitee seit mehr als zehn Jahren formuliert hat. Die Gelbwesten sind aus dem Nichts an die Obefläche gekommen. Das Volk hat Verständnis. Macron hat nichts anderes zu bieten als die Gechassten vor Ihm. Seine Bewegung En marche, eine Luftnummer, um an die Macht zu kommen. Die beiden Kammern geschickt für sich mehrheitsfähig manipuliert. Damit hat er sich ein scharfes Schwert geschaffen, der junge Eneast. Man hat seinen Macchiavel studiert. Mit den Grandes familles bestens verbunden. Mit Brigitte Zustimung im Volk bekommen, man mag diese amourösen Verirrungen im Lande von amour. Doch, kein einziges echtes Problem gelöst. Alle nini, alle sans papiers, sans culottes, alle in den Banlieus aussen vor gelassen. Veränderung per ordre de Mufti, von oben nach unten. ca va pas aller
Demissionär Macron erhöht den Arbeitern die Benzinsteuer, aber gleichzeitig
brüsten sich deutsche Politker und Unternehmer mit dem Besitz ihrer Privatjets.
Das erinnert fatal an die deutsche Energiewende. Laut Trittin ein Desaster.
Hat Macron denn vergessen, Flugbenzin zu besteuern?? Oder Privatjets?
Macron ist dabei, Frankreich in eine desaster Area zu verwandeln.
Alors, Macron.
Dann sollen sie doch per Helicopter zur Arbeit kommen!!!
es sieht fast so aus, dass die "Eliten" zum Schlag gegen den "widerspenstigem" Franzosen ausholen
”There’s class warfare, all right, […] but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.” – Warren Buffet im Interview mit Ben Stein in New York Times, 26. Novemberr 2006
(„Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen“)
weil von den Deutschen ist nichts zu befürchten
https://www.journal21.ch/autoritaere-charaktere
danke für den schönen link auf kant und die sinus-studie.
"Radikale von Links und Rechts" , "Extremisten" , "Plünderer" ... so der so zeigt sich bei jenen Beschreibungen, die bei der Berichterstattung meist in den ersten Worten hängen, wo das Medium steht. Ginge es gegen eine Linke Regierung, würde das Medium mit angeschlossenem Politikbetrieb für das Recht der Freiheit und der Meinung streiten. So sind wir wieder Klassenbeste in der Klasse ...