Rigoros aktionärsjournalistisch

Mindestlohn in der Postbranche Von vielen Zeitungen werden die 9,80 Euro verteufelt, was das Zeug hält. Schließlich wollen ihre Verleger ins Briefgeschäft einsteigen

Wie unabhängig sind heute noch Zeitungs-Redaktionen, wenn es um das Thema Mindestlohn geht? Sie stehen alle unter dem Generalverdacht, dass sie es nicht mehr sind. Der Grund: Jetzt, da zum Jahreswechsel das Briefmonopol fällt, wollen viele Zeitungsverleger in das Briefgeschäft einsteigen. Deshalb haben sie kein Interesse daran, dass es einen Mindestlohn für die Brief-Zusteller gibt; schon gar keinen in Höhe von 9,80 Euro (Westdeutschland), wie die große Koalition ihn gerade als allgemeinverbindlich beschlossen hat. Denn Mindestlöhne verschlechtern die Geschäfte der Zeitungsverleger. Sie hatten kalkuliert, mit Dumping-Löhnen schnell Geld zu verdienen. Der Springer-Konzern und sein Boulevardblatt Bild zeigten, wie das gehen sollte.

Bild machte über Wochen und Monate mobil gegen Mindestlöhne. Auch gegen die in der Postbranche. Mindestlöhne vernichteten Arbeitsplätze in großem Stil, so die Behauptungen in Bild. Die Leser wurden jedoch nicht darüber informiert, dass der Springer-Konzern selbst ins Post-Geschäft einsteigen wollte. Bei dem privaten Postunternehmen PIN sind Bruttostundenlöhne von vier bis fünf Euro normal. Vertreter des Unternehmens - auch Florian Gerster, Präsident des Verbandes privater Postzusteller - durften in Bild, aber auch in anderen Blättern des Konzerns gegen die angeblich arbeitsplatzvernichtenden Mindestlöhne zu Felde ziehen. Auch die Kommentarlinie in den Zeitungen war und ist eindeutig: rigoros gegen Mindestlöhne. Wolfgang Abel, Vertreter von ver.di, sagte dazu in einem Fernsehbeitrag: Das sei "Aktionärsjournalismus". Denn: Wer steckt hinter PIN? Der Springer-Konzern. Konzern-Chef Matthias Döpfner hatte sich die Mehrheitsbeteiligung etwa 500 Millionen Euro kosten lassen. Nun ist es wahrscheinlicher, dass es eine saftige Bauchlandung statt sagenhafter Renditen gibt.

Nur: Es wäre falsch, allein auf den Springer-Konzern zu schauen. Der lehnte sich zwar am weitesten aus dem Fenster, aber die vielen regionalen Zeitungsverleger wollten und wollen natürlich auch dabei sein. Im Vorfeld der Entscheidung der Bundesregierung hatten viele Zeitungen mit eigenen Anzeigenkampagnen gegen die Festschreibung des Mindestlohnes auch öffentlich Position bezogen. Der BDZV, der Bundesverband der deutschen Zeitungsverleger, nimmt entsprechend hart Stellung gegen die jüngste Entscheidung der Regierung. Ist es da eine Überraschung, dass viele Regionalzeitungen mal sachlich, meist polemisch, aber fast immer gegen Mindestlöhne argumentieren, nicht selten agitieren?

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wegen der Interessen der Zeitungsverleger und den entsprechenden Positionen, die in den Redaktionen vertreten werden (müssen?), der öffentliche Streit um den Mindestlohn so auffallend verbissen geführt wird. In England wurde dagegen der Mindestlohn seit 1999 regelmäßig auf nun knapp acht Euro angehoben. Zumindest die offiziell gemessene Arbeitslosigkeit ist dort trotzdem sehr niedrig. Mehr noch: Nach Aussagen von Professor Stefan Sell (Koblenz) wurden im Niedriglohnsektor in England in den vergangenen sechs Jahren beinahe 400.000 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen.

Und dann gibt es in Deutschland noch das nahe liegende Argument: Wenn immer mehr Arbeitnehmer - inzwischen sind es beinahe 1,3 Millionen - ihr aus sittenwidrig niedrigen Löhnen bestehendes Einkommen mit Hartz IV-Zuschüssen aufstocken lassen müssen, um sich und ihre Familien überhaupt ernähren zu können, dann wird so das Lohn-Dumping überhaupt erst richtig angetrieben. Die Unternehmer zahlen unverschämt niedrige Löhne - eine aktive Umverteilung von den Arbeitnehmern zu den Unternehmern - und der Steuerzahler muss aufstocken und diese Umverteilung finanzieren. Dass solche einleuchtenden Argumente von deutschen Zeitungsredaktionen kaum vertreten werden, das kann kein Zufall sein.

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