Am Donnerstag wurde der Gesetzentwurf von Union und SPD zur "Optimierung des Sozialgesetzbuches II" in erster Lesung im Bundestag beraten. Das Gesetz soll im August in Kraft treten. Es knüpft unmittelbar an die Unterstellungen an, ALG-II-Leistungsempfänger würden in größerem Umfang Missbrauch betreiben, und enthält daher eine Fülle von Maßnahmen, um die Kontrolle der Arbeitslosen zu "optimieren" und Sanktionen zu verschärfen. Antragssteller sollen künftig Sofortangebote zur Aufnahme einer Beschäftigung oder Qualifizierung erhalten. Mit dieser Maßnahme möchte man die Arbeitswilligkeit der Betroffenen überprüfen. Besonders schwer will es die große Koalition den Paaren ohne Trauschein machen. Der Personenkreis, der als "einstandspflichtig" gilt, wird deutlich erweitert. Zwei Individuen, die zusammen wohnen und verdächtigt werden, sich in Notfällen gegenseitig auszuhelfen, müssen nun unter Umständen der Behörde beweisen, dass sie keine Bedarfsgemeinschaft bilden. Sollen Betroffene also künftig Details ihres Privatlebens preisgeben? Die Gesetzesänderungen folgen einem bewährten Prinzip der Hartz-Reformen: der Staat betrachtet private Solidarität als Ressource, um Kosten einzusparen. Insgesamt rechnet man mit Einsparungen von 1,2 Milliarden Euro jährlich. Die Neuregelung ist allerdings geeignet, das Zusammenleben von Menschen nachhaltig zu verändern.
Bisher bilden, neben Ehepaaren und eingetragenen Lebenspartnern, auch Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft eine Bedarfsgemeinschaft. Verdient der oder die Partner/in genug Geld (nämlich mehr als das eigene Existenzminimum plus Freibetrag bei Erwerbsarbeit), wird das Einkommen angerechnet und die arbeitslose Person gilt als nicht bedürftig, erhält also gekürzte oder keine ALG-II-Leistungen. Das ist eine hohe Belastung für Menschen, die keine gegenseitigen Unterhaltspflichten wie Ehepaare haben. Bei der Definition der Eheähnlichkeit sind die Gerichte deshalb sehr streng. Bundesverfassungsgericht und Bundessozialgericht sehen in einer eheähnlichen Gemeinschaft mehr als eine reine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft. Nach ihrer Auffassung leben zwei Personen eheähnlich, wenn zusätzlich zum dauerhaften Zusammenleben eine innere Bindung existiert, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründet.
Die neue Definition, die SPD und Union nun erfunden haben, soll den Begriff der Eheähnlichkeit ersetzen: Sie betrifft alle Menschen, die in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenleben, "dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen". Diese sperrige Definition ist deutlich weiter und umfasst auch die bisher ausgeklammerten homosexuellen Paare ohne Trauschein, möglicherweise aber auch Wohngemeinschaften von Freunden oder Geschwistern. So werden in Zukunft die Jobcenter und Sozialgerichte darüber nachdenken müssen, ob im konkreten Fall ein ALG-II-Empfänger möglicherweise mit einer Person zusammen wohnt, die eine gewisse Bereitschaft haben könnte, für den erwerbslosen Mitbewohner das eigene Einkommen aufzuwenden.
Der Begriff der Eheähnlichkeit ist damit hinfällig. Er war geprägt worden, um Ehepaare gegenüber unverheirateten Paaren nicht zu benachteiligen. Wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe vor Schlechterstellung war dies notwendig geworden. Doch heute ist die Frage, wer für wen aufgrund welcher gesetzlicher Vorgaben einstehen muss, fast überflüssig, denn die aktuelle Arbeitsmarktpolitik sieht den legitimsten Grund für die Begründung von Pflichten in der Arbeitslosigkeit selbst. Man wird künftig aufpassen müssen, mit wem man zusammenzieht. Ist die Person möglicherweise von Arbeitslosigkeit bedroht? Könnte man verpflichtet werden, für sie zu zahlen?
Bisher mussten die Behörden im Zweifelsfall das Vorliegen der Eheähnlichkeit vor Gericht beweisen. Viele ALG-II-Empfänger, die erklärten, sie lebten in einer reinen Zweckgemeinschaft, hatten bislang vor den Sozialgerichten Erfolg. Für die Arbeitsbehörde ein Ärgernis. Deshalb enthält das "optimierte" Gesetz eine Beweislastumkehr. Von Personen, die länger als ein Jahr oder mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben oder zwischen denen eine Verfügungsbefugnis über Einkommen und Vermögen existiert, wird vermutet, dass sie bereit seien, füreinander aufzukommen. Im Streit mit dem Amt trifft die Betroffenen die Pflicht, diese Indizien zu widerlegen oder andere Beweise zu erbringen, dass der eine nicht für den anderen zahlen will. Dies lediglich zu erklären, soll allerdings nicht ausreichen.
Die Beweislastumkehr könnte dazu führen, dass Paare, die faktisch nicht unterhaltspflichtig wären, sich außer Stande sehen, vor einem Sozialgericht zu vertreten, dass die Bindung nur sporadischer Natur ist. In Fällen, in denen Partner nicht bereit sind, für erwerbslose Mitbewohner zu zahlen, die Behörde sie aber in dieser Pflicht sieht, kann es dazu kommen, dass das Existenzminimum von Betroffenen gefährdet ist. Als Arbeitsloser keine Rechte gegenüber dem Staat zu haben und sie gegenüber einem Mitbewohner nicht durchsetzen zu können oder zu wollen, kann dazu führen, dass nur einer der Auswege bleibt: das Zusammenlebens aufzulösen oder private Bindungen zu verheimlichen.
Derselbe Staat, der, wo er nur kann, die Familie zum hohen Gut erklärt, entledigt sich hier auf Kosten von Zweierbeziehungen und Freundschaften seiner finanziellen Pflichten. Die möglichen Auswirkungen liegen auf der Hand: Die Menschen tun in Zukunft gut daran, allein zu leben. Eine Entscheidung über eine gemeinsame Wohnung oder Beziehung wird vielleicht (wieder) stärker nach ökonomischen Erwägungen getroffen. Emanzipatorische und zukunftsweisende Ansätze gemeinsamen Lebens, etwa in generationenübergreifenden Wohnprojekten, werden bedroht. Ob dies im gesellschaftlichen oder staatlichen Interesse liegt? Aufgabe von Sozialpolitik wäre es eigentlich, private Solidarität erst zu ermöglichen. Statt eines Rückgriffs auf die traditionelle - und das heißt vor-egalitäre und vor-demokratische - Aufteilung von "Versorgungssphären" zwischen Staat und Familie, sollte eine umfassende, staatsbürgerlich individualisierte Existenzsicherung geschaffen und eine gesellschaftliche Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit vorgenommen werden.
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