Um es vorweg zu nehmen: Ein Weiterbetrieb der belgischen Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 ist verantwortungslos. Die geballte Kompetenz unabhängiger Nuklearexperten lässt daran keinen Zweifel. Sie ist gebündelt im internationalen Forschungsnetzwerk INRAG, zu ihm zählen Chemiker wie der Nobelpreiskandidat Digby Macdonald, die Materialexpertin Ilse Tweer und Gregory Jaczko, der bis 2012 für vier Jahre oberster Chef der US-Atomaufsicht war. Nie zuvor entdeckte man derartige Risse in einem Druckbehälter, es sei ein neues Phänomen, betonte Jaczko bei einem Vortrag in Aachen. Risse ungeklärter Herkunft seien generell bedenklich. Alle Reaktorbestandteile, in denen jemals Risse gefunden wurden, mussten ersetzt oder stillgelegt werden. Erst recht verbiete sich der Weiterbetrieb, wenn das Herzstück eines Atommeilers betroffen sei. Wie konnte es passieren, dass in der deutschen Öffentlichkeit trotzdem der Eindruck entstand, die belgischen Rissemeiler seien sicher? Die Geschichte beginnt bei Belgiens Atomaufsicht FANC. Obwohl die Behörde selbst einräumte, die Risse seien nicht zu erklären, genehmigte sie 2015 das Wiederanfahren der Risikomeiler. Gleichzeitig stellte sie die Hypothese auf, die „Wasserstoffflocken“ seien bereits bei der Fertigung des Stahls entstanden. Die Materialfehler seien nach über 30 Betriebsjahren unverändert und blieben es in Zukunft auch. Mit aufwändigen Berechnungs- und Untersuchungsmethoden versucht die FANC seit Jahren, diese These zu validieren. Sie ist bis heute nicht belegt.
Völlig ignoriert wurde die Tatsache, dass bei Messungen während des Fertigungsprozesses Fehler im Stahl hätten auffallen müssen. Die defekten Schmiederinge hätte man sofort verwerfen müssen, auch nach Ansicht des Bundesumweltministeriums. Scharfe Kritik am Vorgehen der FANC übt der Physiker und Jurist Wolfgang Renneberg, der ebenfalls INRAG-Mitglied ist: „Ein Reaktordruckbehälter, der nicht aus fehlerfreiem Material besteht, darf nicht in ein Kernkraftwerk eingebaut werden. Das war ein eisernes Gesetz. Wenn jetzt ein Reaktordruckbehälter, der bereits beim Einbau mehr als 3.000 Risse aufwies, betrieben werden darf, dessen Dokumentation offensichtlich lückenhaft und falsch ist und bei dem man es für lediglich ‚plausibel‘ hält, dass er sicher ist, dann stehen wir hier an einem Bruch des Sicherheitsdenkens in der Kerntechnik.“ Renneberg, der selbst jahrelang die bundesweite Atomaufsicht leitete, versteht deshalb nicht, warum sich das Bundesumweltministerium darauf einließ, ein solches nachträgliches Rechtfertigungsverfahren wie das der FANC zu akzeptieren. Noch unter Barbara Hendricks (SPD) beauftragte es die Reaktorsicherheitskommission (RSK), die Untersuchungen der FANC auf Nachvollziehbarkeit zu prüfen. Die Formulierungen in der nun veröffentlichten RSK-Stellungnahme haben zur Annahme verleitet, die wenigen offenen Fragen seien nicht der Rede wert und die Unbedenklichkeit der Risse grundsätzlich erwiesen. Dieser falsche Eindruck wurde noch bestärkt, zuerst durch die Aachener Nachrichten und den RSK-Vorsitzenden Rudolf Wieland und kurz darauf durch SPD- Bundesumweltministerin Svenja Schulze.
Die anschließende Enthüllung des WDR, wonach zwei Mitarbeiter des Atomkonzerns Framatome an der Erstellung des Gutachtens beteiligt waren, ist nur die Spitze eines noch größeren Skandals. Dass der Konzern vom Weiterbetrieb belgischer Meiler profitiert, ist besonders offensichtlich – er ist Anteilseigner der Kraftwerke, die er zudem mit Leittechnik aus Erlangen sowie mit Brennelementen aus Lingen versorgt. Aufgeweichte Sicherheitskriterien nützen jedoch allen Atomkonzernen. Insofern befinden sich gleich mehrere Mitglieder der RSK und ihrer Ausschüsse in einem Interessenskonflikt: Leitende Mitarbeiter von Eon/Preußen-Elektra, EnBW und dem TÜV, dessen Zukunft von Aufträgen der Atomindustrie in Europa abhängt. Es ist fatal, wenn das Umweltministerium die Einschätzungen der als atomfreundlich bekannten RSK eins zu eins übernimmt. Doch genau das passiert, immer wieder – eine Neuausrichtung ist vonnöten. „Schulze muss jetzt die richtigen Konsequenzen ziehen,“ fordert Matthias Eickhoff vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen. „Sie muss der RSK und Herrn Wieland die Begutachtung entziehen, die Brennelementexporte aus Deutschland stoppen und in Belgien die Stilllegung der gefährlichen Rissemeiler vorantreiben.“
Kommentare 7
Langsam nervt es, zu diesem Thema immer nur die Parteimeinung einer Interessengruppe zu lesen.
Es geht um einen hochkomplizierten technisch- naturwissenschaftlichen Sachverhalt. Da wird man nicht auf der einen Seite die über jeden Zweifel erhabenen unabhängigen Sachverständigen und auf der anderen Seite die Lohnschreiber erwarten können. Alle Experten sind abhängig und wenn es nur die Abhängigkeit von ihrer seit Jahrzehnten vertretenen wissenschaftlichen Meinung ist. Von den finanziellen Abhängigkeiten ganz zu schweigen. Den Ober- Experten, der eine Entscheidung herbeiführen könnte, gibt es nicht.
Die Frage, ob die belgischen Kernkraftwerke weiter betrieben werden können oder nicht, muss politisch entschieden werden. Für die Entscheidung ist nicht die German angst der Maßstab sondern der Willen der Bürger Belgiens.
Für alle Ängstlichen in Deutschland ein Vorschlag: Sie zahlen freiwillig einen Aufschlag auf ihre Stromrechnung – m.E. Untergrenze 10 ct/KWh. Mit diesem Geld werden die Mehrkosten der Umstellung auf Gaskraftwerke mit Frackinggas aus den USA bezahlt. @realDonaldTrump würde das sicher gefallen. Wer macht mit?
Langsam nervt es, immer wieder von den Ängstlichen in Deutschland oder German Angst zu lesen, geschweige denn, die hirnrissige Alternative: Energie Fracking-Gas kommentieren zu müssen. Denn wenn es mit einem der belgischen Reaktoren mal schief geht, ist bei dem meist vorherrschenden Westwind der deutsche Bürger betroffen.
Die Kerntechnik selbst ist der Bruch im Sicherheitsdenken beim Bau von Kraftwerken. Diese Plausibilität war für Jedermann stets offensichtlich.
Klar, wenn Kernkraftwerke per se pöse sind, muss man sich über technisch- naturwissenschaftliche, kommerzielle und gesellschaftliche Fragen keinen Kopf mehr zerbrechen.
Manchmal fördert ein einfaches schwarz- weiß Weltbild doch sehr den Seelenfrieden; wusste die Kirche schon vor fast 2.000 Jahren.
>>Denn wenn es mit einem der belgischen Reaktoren mal schief geht, ist bei dem meist vorherrschenden Westwind der deutsche Bürger betroffen.>>
Ja klar. Aber solange nichts passiert ist, ist eben nichts passiert. Diese Weisheit gilt sogar dort, wo mal zwei Kernspaltungsbomben abgeworfen wurden. Und danach hat man die Leute eisern im Griff.
Übrigens kennt diese Weisheit ja auch jeder Autofahrer ;-)
„Übrigens kennt diese Weisheit ja auch jeder Autofahrer ;-)“
Das ist doch ein guter Diskussionsansatz. Auch wenn die Grundsatzfragen zur Kernenergie schon hunderttausendmal wiedergekäut wurden nochmal eine Kurzfassung: Es gibt keine Technik mit identisch Null Risiko. Es ist immer die Frage, ob die Vorteile der Technik so groß sind, dass die Gesellschaft die Risiken akzeptiert. Beim motorisierten Individualverkehr ist es offensichtlich so, dass mehr als 2.000 Tote p.a. nur allein in Deutschland akzeptiert werden. Die Gesellschaft in Deutschland hat sich entschieden, ein vergleichbares Risiko für Kernkraftwerke nicht zu tragen. Das akzeptiere ich.
Ich akzeptiere allerdings nicht, wenn wir unsere Nachbarn mit der Deutschen Sicht der Dinge beglücken wollen. Das müssen die schon alleine entscheiden. Dazu kommt eine sehr selektive Auseinandersetzung mit den Belgischen KKWs, wo doch Tschernobyl gezeigt hat, dass der Wind auch von Osten wehen kann. Und wenn wegen German angst die Belgischen KKWs abgeschaltet werden sollen, sollten wir unseren Nachbarn schon eine realistische Alternative für die Stromversorgung aufzeigen.
Es regt mich auf, wenn in den Artikel so getan wird, als ob für einen hochkomplizierten technischen Sachverhalt die Expertenbewertung einheitlich wäre und nur ein paar „Knechte der Atomlobby“ etwas anderes sagen würden.