Stühle und Hocker werden geholt, das Sofa quer gestellt, der Andrang auf die wenigen Reihen der Bistrobänke in der französischen Buchhandlung ist groß. An einem Freitag im August begrüßt Patrick Suel das Publikum und seinen Gast. Die kanadische Autorin Nancy Huston sitzt am kleinen Tisch, auf dem orange glimmende Leselämpchen stehen, eine schlanke Frau mit mädchenhaftem Pony und fließender Marlenehose. Huston stellt ihr neues Buch vor, nicht in ihrer Wahlheimat Paris, sondern hier bei „Zadig“, einer kleinen Buchhandlung in der engen Linienstraße in Berlin-Mitte.
Patrick Suel hat Zadig vor 15 Jahren gegründet. Damals kleidete er sich dandyhaft, trug taillierte Jacken über psychedelisch gemusterten Hemden mit funkelnden M
nkelnden Manschettenknöpfen und langen Kragen, wenn er Lesungen moderierte. Elegant ist der 52-Jährige noch immer, aber er wirkt intellektueller mit dem kurz geschnittenen Haar und der kleinen runden Brille.Suel stammt aus den Cevennen, dem südöstlichen Teil des französischen Zentralmassivs, aus einer gebirgigen Gegend im Süden. „Die Männer aus dieser Gegend sind alle ...“ Er macht eine Geste mit dem Arm, die als widerständig oder kämpferisch gedeutet werden kann. Er selber widerstehe vor allem dem Smartphone, sagt er, „vehement“, er spricht es französisch aus. Die ständige Fixierung auf das Display des Smartphones (Patrick Suel nennt es „Smartphonie“) ist in seinen Augen das symbolische Ende der Kultur und der Sieg des Neoliberalismus. „Wir sind keine Konsumenten“, sagt er. Sie leben einfach, seine Frau und er. Kein Auto. Keine luxuriösen Möbel. Keine Mikrowelle. Kein Whatsapp. Es sei für sie nicht eine Frage des Geldes, sondern des Stils.Seine Frau war es, die ihn nach seinem Philosophiestudium mit nach Berlin genommen hat, wenige Jahre nach dem Mauerfall. Sie kannte die Stadt bereits durch einen Aufenthalt als Au-pair. Die beiden wollten sich in der gebrochenen Stadt niederlassen, zwischen den bröckelnden Mauerresten, Einwanderer, die ihre eigene Kultur mitbrachten – und mittendrin sein wollten.Die neue Buchhandlung sprach sich schnell herum in der französischen Community der Stadt (in Berlin gehören ihr etwa 20.000 Leute an) und unter frankophilen Berlinern. Alle hieß Patrick Suel in seinem Laden willkommen: die Nachbarn, die Kinder bei den Lesungen, Zugezogene. „Zadig ist für mich mehr als eine Buchhandlung“, sagt Alexandra, die an dem Abend zur Lesung gekommen ist. Sie ist eine langjährige Kundin und zog zur selben Zeit wie Patrick Suel und seine Frau aus Frankreich nach Berlin. „Es ist eine Art von Sein, das Patrick vertritt, mit seiner Intelligenz, Offenheit und Großzügigkeit. Ich komme nicht nur hierher, wenn ich ein Buch brauche. Oft rede ich einfach ein paar Worte mit Patrick, und ich lerne immer etwas dabei.“KiezpicknickDoch der Buchladen wirft so gut wie nichts ab: Den Lebensunterhalt für die vierköpfige Familie verdient vor allem seine Frau als Übersetzerin. Wenn etwas übrig bleibt, wird es in den Theatern der Stadt ausgegeben. Myriam Ochoa-Suel schwärmt von Der Meister und Margarita in der Volksbühne und In Zeiten des abnehmenden Lichts im DT. Aber sie hat oft Schwierigkeiten, die Schauspieler zu verstehen. So wie ihr Mann.Der trägt dafür Sprache und Lebensart nach Berlin – und das hörte man auch in der Grande Nation. Im Februar 2018 wurde Suel auf der Buchmesse in Paris zum Ehrenritter der Kunst und Literatur geschlagen: für sein Engagement bei der Verbreitung der französischen Literatur und Kultur in Deutschland. Natürlich ist er stolz darauf. Die Urkunde hängt im Geschäft an der Wand neben dem Ladentresen. Aber diese kurze Berührung mit der Politik trug ihm bissige Kommentare einiger französischer Freunde ein. Sie finden es verräterisch, dass er der Kulturministerin Françoise Nyssen die Hand gereicht hat, die Macron im Wahlkampf unterstützte.Placeholder infobox-1Patrick Suel sagt, er habe nichts gegen die Ministerin, eine Sozialistin immerhin. Er hat im Grunde auch nichts gegen den Präsidenten. Er sieht sich als gemäßigten Linken, verortet sich politisch in der Tradition der sozialistischen 68er-Bewegung und der alternativen Linken. Patrick Suel bewundert Autoren wie Didier Eribon oder Édouard Louis, den jungen Wilden der französischen Literatur, der sich weigert, Macron die Hand zu geben. Weil Macron jemand sei, der die Armen hasse.Diese Intellektuellen scheinen einen Nerv zu treffen, die Sehnsucht nach einer ernsthaften neuen europäischen Linken – souverän, kulturvoll und elitär, nicht im Sinne einer Abgrenzung, sondern des Anspruchs.Patrick Suel ist eher Beobachter. „Die Politik ist immer böse, wir müssen für die Kultur kämpfen“, sagt er. Sein Deutsch hat noch immer diesen starken Akzent. Es ist nicht schlecht, aber sein Wortschatz ist begrenzt geblieben, erlaubt wenig Differenzierungen. Er hat kaum Gelegenheit, Deutsch zu trainieren. In der Buchhandlung spricht er Französisch. Das erwarten die Kunden von ihm. Sie möchten mit ihm plaudern, auch die frankophilen Berliner, über Politik, die Medien und die Literatur natürlich. Zu Hause wird ebenfalls in der Landessprache geredet.Dabei stammt er aus einer germanophilen Familie in Südfrankreich. Seine Tante ist Deutschlehrerin. Sein Onkel liest Artikel, die in der deutschen Presse erscheinen. Patrick Suel schlendert gern durch die Straßen Döblins und Brechts, in denen einst das jüdische Herz Berlins schlug. Es war ihm keine Fremde, sondern vertrautes europäisches Terrain. Hat er nicht Lust, nach nunmehr fünfzehn Jahren in Berlin, Döblin und Brecht in der Originalsprache zu lesen? „Ja, ich habe ein paar Bücher neben dem Bett!“Was macht sie heute eigentlich noch aus, französische Lebensart? Außer der Sprache natürlich; nach wie vor bezaubernd, hastig und voller Wortspiele gesprochen von Patrick Suel. Natürlich, Essen!Zu einer Zeit, als es in der Linienstraße noch ein soziales Projekt und einen Bioladen gab, wollte er französische Kultur in Form eines Kiezpicknicks in der Nachbarschaft einführen. In den französischen Städten hatten „repas de quartier citoyen“ die Straßen erobert, nachdem das erste„repas“1991 von dem Schriftsteller und Musiker Claude Sicre in Toulouse organisiert worden war. Jeder bringt etwas zu essen und zu trinken und einen Stuhl mit. Die Idee ist, die Straße für die Menschen zurückzuerobern und mit fremden Nachbarn ins Gespräch zu kommen. Die Berliner taten sich schwer damit. Nur ungefähr hundert Leute waren zum ersten Kiezpicknick gekommen, weit entfernt von Pariser Dimensionen.Zwei Jahre später unternahmen er, seine Frau und einige Freunde einen erneuten Versuch; größer, besser, aufwendiger. Ein Zeichenworkshop für Kinder wurde geplant, Poetry-Slammer und Musiker sollten auftreten. Die ganze Linienstraße hinauf und hinunter wurden Einladungen in den Briefkästen verteilt. Die französische Botschaft, das Institut français, der Berliner Senat und viele Gewerbetreibende spendeten Geld, um das „repas“ zu finanzieren. Der Bioladen spendierte eine Kiste Äpfel.Es sei schwierig gewesen, den Geschäftsleuten im Kiez zu vermitteln, dass es keine kommerzielle Veranstaltung sei, sondern einfach um das Zusammenkommen und Zusammenessen und das Miteinanderreden gehe, sagt Suel. Letztlich war es ein schönes Straßenfest, doch danach hat es nie wieder ein französisches Kiezpicknick vor der Buchhandlung gegeben. Die Eroberung der Straße war vorerst gescheitert.An einem Sommerabend sitzen Patrick Suel, seine Frau und ihr zwölfjähriger Sohn Django dicht gedrängt an einem der Tische vor dem Restaurant „Zosch“. Sie haben Salat bestellt und Burger. Das Zosch, im Keller auch Musikclub, ist eines der ersten Pubs, das nach den politischen Umwälzungen 1989 hier aufgemacht hat, und eines der letzten verbliebenen. Die alternative Fassade bröckelt. Die Kellnerin des Zosch kennt das Paar, seit es in Berlin ist. Ihre Kinder sind mit denen der Suels in eine Kita gegangen. Ab und an tritt der Koch auf die Terrasse, trocknet sich die Hände an einem derben blauen Handtuch und schaut, ob Freunde oder Bekannte eingetroffen sind. Viele der Gäste sehen so aus, als hätten sie das Zosch damals mit eröffnet.Patrick Suel gerät im Viertel heute in die Defensive. Er muss sein Geschäft gegen Immobilienspekulanten verteidigen. Die erste Kündigung, die er erhielt, ist jetzt drei Jahre her. Mit seiner Frau verfasste er damals einen Brief, in dem sie an ihre Vermieter appellierten, die Kündigung zurückzuziehen. Darin hieß es: „Inzwischen ist unsere kulturelle Arbeit in Berlin bekannt und anerkannt und wir freuen uns über die Unterstützung von vielen offiziellen Einrichtungen (auch die französische Botschaft und das Kanzleramt zählen zu unseren Kunden und Förderern) ... Dieses Jahr haben wir die zwei ersten Bücher einer eigenen Buchreihe über Berlin namens Rue des lignes / Linienstraße veröffentlicht.“Die Vermieter zogen die Kündigung dann mit einem einzigen lapidaren Satz zurück, jedes Gesprächsangebot lehnten sie ab. Patrick Suel glaubt, dass sie das nur wegen der anstehenden Bauarbeiten gegenüber getan haben, weil wieder Baulärm einsetzte, diesmal auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Buchhandlung, und das einer Neuvermietung nicht förderlich gewesen wäre. Er rechnet täglich mit einer neuen Kündigung. Bald steht auch da drüben ein fertiges Haus, in dessen Erdgeschoss einer dieser Mode- oder Kaffeeläden aufmachen wird. Oder ein Pop-up-Store. Das sei jetzt die Masche der „Immobilienmafia“ in Mitte, schimpft Suel. Er wehrt sich, in den Cafés, Galerien und Läden der Nachbarschaft das mittlerweile übliche Englisch zu sprechen.GegendemoWie soll der Laden die neuen Mieten tragen? Patrick Suel sucht den Schulterschluss mit Verbündeten im Viertel.Einer von ihnen ist Jörg Braunsdorf, der Inhaber der Tucholsky-Buchhandlung, gleich um die Ecke. Er mag die französischen Nachbarn. Das Sortiment von Zadig hält er für exzellent. „Man merkt, dass Patrick Suel ein sehr belesener Mann ist.“ In den Veranstaltungen in der Tucholsky-Buchhandlung geht es unter anderen um den Zustand der deutschen Sozialdemokratie. Ihr Verfall ist noch nicht so weit fortgeschritten wie der der französischen.Patrick Suel und seine Frau unterstützen das Engagement des Buchhändlers gegen die Verdrängung aus dem Kiez, außerdem organisiert Braunsdorf zusammen mit Nachbarn Gegendemos, wenn die AfD die Straßen von Berlin-Mitte vereinnahmt.Obwohl er lieber gute Küche auf die Straße verlagert als politischen Protest, ist Patrick Suel mit seiner Frau doch einmal mitgelaufen. Der Deutsche und der Franzose sind sich auch einig in ihrer Ablehnung der Bewegungen von Jean-Luc Mélenchon und Sahra Wagenknecht. Braunsdorf will keine neue Bewegung, er hofft weiter auf die Erneuerung der Sozialdemokratie. Suel hält „La France insoumise“ für populistisch und europafeindlich, dass Mélenchon im Wahlkampf gegen Deutschland polemisiert hat, verzeigt er ihm nicht.Er sehe sich als Europäer, sagt Suel in seinem gebrochenen Deutsch. Als Europäer, der kein Englisch spricht und der seinen Kiez auf keinen Fall verlassen will.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.