Robert Habecks Geldspeicher

Staatsfinanzen Die Zinsen werden nicht ewig so niedrig bleiben – genau deswegen wäre eine Vermögenssteuer besser als neue Schulden
Ausgabe 31/2021

Wie einfach der Staat gigantische Beträge durch neue Schulden mobilisieren kann, zeigte die Corona-Krise. Auch die Schuldenbremse, die für diese und weitere Hilfen in Deutschland ausgesetzt wurde, wird nicht mehr nur von links kritisiert. Kanzleramtsminister Helge Braun warf Anfang des Jahres die These in den Raum, dass diese Bremse in den kommenden Jahren „auch bei ansonsten strenger Ausgabendisziplin nicht einzuhalten“ sei. Und das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln meinte, dass zum Schließen der „Investitionslücke angesichts der aktuellen Negativzinsen auch schuldenfinanzierte Investitionen ein probater Weg“ seien. Für nachhaltige Sachinvestitionen ist das unbestritten. Wenn allerdings etwa zusätzlich Lehrer oder Pflegekräfte gebraucht werden, für die Löhne zu zahlen sind, dann sind das ebenso wenig Investitionen wie mit Schulden finanzierte Steuersenkungen für Spitzenverdiener und Konzerne.

Das ändert nichts daran, dass Schulden zu Nullzinsen aus unterschiedlichen politischen Motiven extrem „in“ sind. Als die Linke eine Vermögensabgabe für Reiche zur Rückzahlung der Corona-Kosten forderte, bekam sie von Grünen-Chef Robert Habeck und DGB-Chef Hoffmann via FAZ zu hören, dass damit ja so getan würde, als sei Kreditaufnahme ein Problem – frei nach dem Motto: Wozu sich mit den Superreichen anlegen, wenn der Staat sich Geld umsonst leihen kann?

Klingt gut, aber plausibel?

Aber warum wird überhaupt angenommen, dass das Schuldenmachen für einen Staat kein Problem sei? Erst einmal erschrecken ja die nackten Zahlen: In den USA, aber auch im Durchschnitt der OECD-Länder, liegt die Staatsverschuldung auf einem historischen Rekordniveau. Die durchschnittliche Verschuldung lag 1946, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, bei 94 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und sank bis Mitte der 70er Jahre auf 25 Prozent. In den nächsten Jahrzehnten stieg sie trendartig an und erreichte 2020 im Durchschnitt wieder 95 Prozent.

Tatsächlich ist eine hohe Verschuldung dann unproblematisch, wenn der Zinssatz auf die Staatsschuld niedriger ist als die Wachstumsrate der Wirtschaft auf der Basis des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Denn dann wachsen die Schulden langsamer als das BIP, und deshalb sinkt die Schuldenquote. Aktuell ist das der Fall. Wäre es umgekehrt, würde sich das Schuldenrekordniveau sehr unangenehm bemerkbar machen. Aber bleibt das auch so? Habeck und Hoffmann behaupten schlicht und einfach, dass es „extrem niedrige oder gar negative Zinsen (...) auf absehbare Zeit“ geben werde. Klingt gut, aber ist das plausibel?

Für Olivier Blanchard schon. Der ehemalige Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds argumentiert, dass in vielen Ländern das Wachstum in der Vergangenheit höher als der Zinssatz gewesen sei und deshalb auch in der Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden könne. Die Vergangenheit einfach so auf die Zukunft zu projizieren, ist an sich nicht eben überzeugend. Aber war es überhaupt jemals so, wie Blanchard behauptet? Für die letzten Jahre stimmt es. Zwischen 1980 und 2015 lagen die Zinsen für Staatsschuldentitel jedoch um durchschnittlich rund 1,5 Prozentpunkte höher als das Wachstum der Wirtschaft. Das zeigt eine Untersuchung, die im Quarterly Journal of Economics veröffentlicht wurde, für 16 OECD-Länder. Auf der empirischen Grundlage der vergangenen 40 Jahre kann nicht abgeleitet werden, dass höhere Zinsen auf „absehbare Zeit“ nicht möglich sind.

Lässt sich die Annahme anderweitig rechtfertigen? Man könnte die Theorie der „Säkularen Stagnation“ dazu anführen. Sie stammt aus den 1930er Jahren und wurde vom Finanzminister der Clinton-Regierung, Lawrence H. Summers, nach der weltweiten Banken- und Finanzkrise wieder in die ökonomische Debatte eingebracht. Demnach gibt es strukturelle Gründe für ein stetig sinkendes Zinsniveau. Etwa würde das sinkende Bevölkerungswachstum die Investitionsnachfrage bremsen.

Dadurch würde die Nachfrage nach Kapital und so auch der Zins als Preis für Kapital sinken. Außerdem würde sich durch die zunehmende Ungleichheit die Sparneigung und damit das Angebot an Kapital erhöhen, was ebenfalls den Zinssatz drücken würde. Man sieht leicht, dass linke Kräfte vorsichtig sein sollten, diese Thesen für den Bestand von Nullzinsen heranzuziehen. Denn die genannten Gründe würden von einer anti-neoliberalen Politik beseitigt werden, die die Investitionen durch Ausgabenprogramme in die Höhe treiben würde. Zum anderen ist auch die Verringerung der Ungleichheit ein Kernanliegen linker Politik.

Kurz: Weder die Empirie der vergangenen 40 Jahre noch die Theorie der „Säkularen Stagnation“ lassen widerspruchslos erkennen, womit die Annahme gerechtfertigt werden kann, dass Niedrigzinsen bleiben werden. Oder steckt hinter der vollmundigen Gewissheit von Habeck, Hoffmann und Co. am Ende nur ihr fester Glaube, dass die Notenbanken Null- und Negativzinsen schon garantieren werden?

Das wäre eine gefährliche Illusion, denn offiziell haben die Zentralbanken primär die Aufgabe, die Stabilität des Preisniveaus zu gewährleisten, was bisher mit einer maximalen Zunahme der Verbraucherpreise von zwei Prozent pro Jahr definiert war. Zwar haben sowohl die US-Notenbank als auch die Europäische Zentralbank gerade ihre Regeln so geändert, dass sie nun zeitweise auch höhere Preissteigerungsraten zulassen können, aber das ändert nichts daran, dass ihnen nur ein Instrument dazu zur Verfügung steht: Sie können entweder eine expansive oder eine restriktive Geldpolitik betreiben. In den vergangenen Jahren war das kein Problem, weil die Verbraucherpreise deutlich unter dem Limit von zwei Prozent wuchsen. So konnten die Zentralbanken eine expansive Geldpolitik betreiben, die sowohl im Einklang mit ihrer offiziellen Aufgabe zur Wahrung der Preisniveaustabilität war, als auch zu Null- und Negativzinsen führte.

Druck auf die Löhne

Wenn aber die Verbraucherpreise längere Zeit deutlich über zwei Prozent pro Jahr steigen würden, müssten die Zentralbanken eine restriktive Geldpolitik betreiben, die dann zu steigenden Zinsen führt – und so zu einem massiven Problem für die Rekordverschuldung wird. Inzwischen ist das keine abstrakte Gefahr mehr. Die Inflationsrate stieg in den USA im Juni gegenüber dem Vorjahresmonat auf ein 13-Jahres-Hoch von 5,4 Prozent und in Deutschland im Juli auf ein 25-Jahres-Hoch von 3,8 Prozent.

Die Ursachen sind vielfältig. Sie reichen von einer enormen Erhöhung der zur Verfügung stehenden Einkommen durch die Corona-Hilfen-Transfers an die Haushalte, insbesondere in den USA, bis hin zu deutlich gestiegenen Energie- und Rohstoffpreisen. Auch in den vergangenen Monaten stiegen so die Erzeugerpreise in den USA anhaltend schneller als die Verbraucherpreise, und das zeigt für die nächste Zeit weiteren Preisdruck an. Ob aus dieser Entwicklung ein mehrjähriger Inflationsprozess mit anhaltenden Raten über zwei Prozent entsteht, ist eine offene Frage. Dazu müssten die Preissteigerungen höhere Lohnabschlüsse befeuern und so einen wechselseitigen Prozess in Gang setzen.

Unabhängig von den Corona-Effekten gab es in den vergangenen Jahrzehnten durch die Globalisierung einen weltweiten Druck auf die Löhne, vor allem über die Integration der hohen Anzahl chinesischer Arbeiter in den Weltmarkt. Diesen Prozess halten Ökonomen wie Charles Goodhart oder Manoj Pradhan für ausgereizt. Er könnte sich durch die schrumpfende Bevölkerung in China sogar in sein Gegenteil verkehren. Dieser Effekt würde durch einen echten Politikwechsel hierzulande mit höheren Mindestlöhnen, der Beseitigung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und rechtlichen Besserstellung der Gewerkschaften verstärkt werden.

Wie auch immer: Wenn ein verfestigter Inflationsprozess entsteht, müssten die Zentralbanken ihm irgendwann mit Zinsschritten begegnen, und damit könnte eine langjährige Phase eingeleitet werden, in der die Zinsen auf die Staatsschuld höher sind als das Wachstum der Wirtschaft. So war es in den 1980er Jahren in der Folge hoher Inflationsraten. Damals kam eine langjährige sozialdemokratische Reformpolitik durch eine mangelhafte Einschätzung des Inflationsprozesses an ihr Ende. Auch jetzt wäre es fahrlässig, dieses Risiko zu unterschätzen. Nicht zuletzt, weil sie die niedrigen Einkommen am härtesten trifft. Die höchsten Reallohneinbußen hatten im vergangenen Jahr insbesondere angelernte und ungelernte Arbeiter zu verschmerzen, im Gegensatz zu den leitenden Angestellten und Fachkräften. Insbesondere Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor ohne Tarifvertrag und mit niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad werden die Verlierer von anhaltend höheren Inflationsraten sein. In Rechnung gestellt werden müssen außerdem die Kollateralschäden der anhaltenden Nullzinspolitik für die soziale Spaltung der Gesellschaft. Denn die Aktien- und Immobilienpreise werden in die Höhe getrieben. Und davon profitieren insbesondere die Reichen, während die untere Hälfte der Gesellschaft durch Mieterhöhungen frei verfügbares Einkommen verliert.

Fazit: Es kann keine Gewissheit geben, dass auch in den nächsten Jahren der Zinssatz auf die Staatsschulden unter der Wachstumsrate liegen wird. Einen Politikwechsel zum Nulltarif wird es deshalb auch nicht zu gegenwärtigen Nullzinsen geben. Auf der Sollseite stehen die Kollateralschäden und das erhöhte Risiko bei steigenden Zinsen.

Um noch einmal auf die Reichensteuer zu kommen: Es wäre unverantwortlich, auf sie und eine daraus resultierende gerechtere Verteilung von Vermögen und Einkommen zu verzichten und zur Finanzierung sozialer und klimapolitischer Ausgabenprogramme allein auf Neuverschuldung zu setzen. Es bleibt also eine Illusion, gesellschaftlichen Interessengegensätzen durch eine alleinige Finanzierung auf Pump aus dem Weg gehen zu können.

Alexander Troll ist diplomierter Volkswirt und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linksfraktion im Deutschen Bundestag

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