Nicht nur das Wandbild des riesigen Hasen neben der Treppe wirkt ausnehmend verstörend. Die dunkle Einrichtung des Hauses lässt keinen bestimmten Stil erkennen und sieht ein wenig abgenutzt aus. Langsam bewegt sich die Kamera durch das leere, nein, menschenleere Gebäude. Zwischen einem Gefühl der Verunsicherung und der Bedrohung lässt sich kaum unterscheiden.
Man könnte es als Erleichterung empfinden, wenn zu Beginn von Der menschliche Faktor endlich eine Familie in der Hofeinfahrt zu erkennen ist und wenige Sekunden später durch die Tür tritt. Zuerst solle gelüftet werden, meint der Vater, das Wohnzimmer mit dem sofort eingeschalteten Fernseher wird von den Kindern besetzt. Der menschliche Faktor hat die beklemmende Stille gestört, er ist e
tört, er ist ein Störfaktor. Allerdings haben wir uns so sehr an ihn gewöhnt, dass wir ohne ihn nicht mehr auszukommen meinen – und froh sind, wenn er uns wie hier aus einer als unheimlich empfundenen Atmosphäre reißt.Die Eltern und die zwei Kinder, die im belgischen Ferienhaus das Wochenende verbringen wollen, sind wie oft in Familien in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Man ist nicht eben freundlich zueinander, zwischen Nina (Sabine Timoteo) und Jan (Mark Waschke) gibt es merklich Spannungen, die ältere, pubertierende Tochter Emma (Jule Hermann) möchte lieber mit der Freundin abhängen und der jüngere, introvertierte Sohn Max (Wanja Valentin Kube) ist um seine Hausratte besorgt, die er in einem Karton mitgenommen hat.Man gibt sich weltoffen, spricht Deutsch und Französisch, offensichtlich stammt Nina aus der Gegend. Liberal möchte man natürlich auch sein. „Sei doch nicht so dogmatisch“, wird Jan die Vorwürfe Ninas später zurückweisen, „das sind bei Weitem nicht die Schlimmsten.“ Jan hat nämlich eine Abmachung gebrochen und für die gemeinsame Werbeagentur eine Kampagne für eine politische, offensichtlich populistische Partei eingefädelt. Nina ist sauer, doch anscheinend braucht man das Geld. Oder zumindest Jan, der auch das Restaurant am Strand ein wenig teuer findet. Es wäre also gut möglich, dass auch ohne den bedeutsamen Vorfall, der sich kurz nach der Ankunft ereignet, diese Beziehung auseinanderbricht. Beziehungsweise dass es nur noch eines solchen Vorfalls bedarf, damit das zerbrechliche Gefüge zusammenstürzt.Eingebetteter MedieninhaltEinsam mit anderenBereits mit seinem prägnanten Spielfilmdebüt Die Einsiedler über eine Südtiroler Bergbauernfamilie hat der in den italienischen Alpen aufgewachsene Filmemacher Ronny Trocker eine Arbeit über die Einsamkeit gedreht, die man neben jenen Menschen fühlt, denen man glaubt nahezustehen. Hier waren es eine alte Bäuerin und ihr erwachsener, im Tal arbeitender Sohn, die sich die familiäre Last nicht teilen, sondern alleine zu stemmen versuchen. In Der menschliche Faktor verpflanzt Trocker, abermals mithilfe der einprägsamen Kameraarbeit von Klemens Hufnagl, dieses Motiv zwar in ein anderes Milieu, gewährt seinen Charakteren aber ebenso kein Entkommen. Einmal übernimmt die Kamera gar den Blick der Ratte, die in ihrer Schachtel mit Luftlöchern eingesperrt ist, bis Max sie in einer Schrecksekunde zu Boden fallen lässt. Ihre Freiheit wird nicht lange währen.Für die unterschiedlichen Sichtweisen der einzelnen Familienmitglieder wählt Trocker ein dramaturgisch einfaches, wiewohl probates Mittel: Es sind die verschiedenen Perspektiven, die den Vorfall in ein anderes Licht rücken: Als Jan am Ankunftstag vom Einkauf zurückkehrt, hört er, in der Einfahrt telefonierend, Nina im Haus schreien. Einbrecher hätten sich eben davongemacht, erzählt sie, ihr Nasenbluten stamme von der Türe, gegen die sie gelaufen sei. Wenn man später dieselbe Situation aus der Sicht des Sohnes, der im ersten Stock aus dem Fenster blickt, sieht, könnte man aber wie Max glauben, dass es Jan nicht besonders eilig hatte, seiner Frau zu Hilfe zu kommen.Der Vater, der nicht zu Hilfe eilt und dadurch einen familiären Zerfallsprozess in Gang setzt, erinnert frappant an Ruben Östlunds Force Majeure, und auch einige formale Inspirationen durch das Autorenkino der vergangenen Jahre lassen sich erkennen. Doch diese mittlerweile weniger avancierte als längst klassische Erzähltechnik wird bei Trocker nicht zum Selbstzweck, sondern dient der Idee, die dem Film zugrunde liegt. Denn die Montage (Schnitt: Julia Drack) ist im Kino bekanntlich nicht raum-zeitlicher, sondern gedanklicher Natur. Und obwohl sich in Der menschliche Faktor natürlich die allgemeine Skepsis niederschlägt, in einer unübersichtlich gewordenen Welt eine einzige Wahrheit finden zu können, erzählt dieser Film noch von einer anderen Tatsache: Man kann sich auf sich selbst nicht mehr verlassen.In ein und derselben Situation könnte man mal so und mal anders reagieren. Man könnte eine langjährige Beziehung eingehen und dabei übersehen, wohin sie einen geführt hat. Man könnte diese Beziehung und damit die Familie retten – oder eben nicht. Es ist der menschliche Faktor und damit die jeweils eigene Sicht der Dinge, die im entscheidenden Augenblick den Unterschied macht.In zwei kurzen Szenen sieht man Jan in einem Kajak sitzen und in einem Kanal mitten durch die Großstadt rudern. Rhythmisch, monoton, immer geradeaus. Hier braucht er sich nicht zu entscheiden, sondern nur zu funktionieren.Placeholder infobox-1
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