Erneuern heisst Überleben Der DGB stemmt sich gegen den Bedeutungs- und Mitgliederverlust der Gewerkschaften. Vorerst ist die ganz große Trendwende noch nicht in Sicht
Die deutschen Gewerkschaften wollen sich erneuern. Sie wollen dies, weil ihre Gegenwart grau und ihr Leidensdruck hoch ist: Sie haben an Einfluss in der Gesellschaft verloren. Ihr Image ist schlecht. Unter ihren Mitgliedern sind zu wenige Frauen, zu wenige Junge, zu wenige Angestellte und vor allem werden es immer weniger, so dass es auch um die Finanzen nicht gut bestellt ist.
Weltweit erreichen immer mehr Staaten den Status eines Industrielandes. Die Erwerbsarbeit von Frauen nimmt zu. Immer mehr junge Menschen scheitern bei ihren Versuchen, überhaupt ins Erwerbsleben hinein zu kommen. Das heißt: Für zunehmend mehr Menschen ist es wichtig, eine Erwerbsarbeit zu bekommen und diese zu behalten - insofern werden Gewerkschaften objektiv gebraucht. Mann und Frau brauchen sie. Abe
n sie. Aber können sie die heutigen Gewerkschaften gebrauchen? Offenbar nicht, ansonsten müssten deren Mitgliederzahlen steigen. Warum dies nicht so ist, dafür gibt es viele Gründe: die vielen Steine, die einem der böse Gegner in den Weg legt, strukturelle Änderungen in Wirtschaft und Staat, natürlich auch eigene Fehler. Entscheidend ist erst einmal: Die Trends sind eindeutig, sie zeigen nach unten.Gewerkschafter als Konsumenten - warum nicht millionenfach Lidl boykottieren?Der Name ist deshalb kein Zufall: Trendwende - so heißt das ganz große Projekt, das vom DGB-Bundesvorstand gesteuert wird. Es sind die Vorsitzenden aller Einzelgewerkschaften persönlich, die sich bereits seit Monaten treffen, um über eine neue Politik der Gewerkschaften zu beraten und zu beschließen. Ganz groß ist dieses Projekt aus noch einem Grund. Es geht buchstäblich um alles: ob Organisation, neue Server oder eine neue Position zur Reform des deutschen Steuersystems. Es gibt nichts, was in diesem mächtigsten Kreis, den die deutschen Gewerkschaften zu bieten haben, nicht behandelt wird.An der Zukunft der Gewerkschaften wird aber auch am ganz anderen Ende gebastelt, machtpolitisch gesehen an der Peripherie, in den gewerkschaftsnahen und gewerkschaftseigenen Think Tanks, unter anderem der Hans Böckler-Stiftung. Auch dort geht es um das Ganze: Sind die Organizing-Strategien aus den USA, mit denen es dortigen Trade Unions gelingt, vorrangig in Dienstleistungs-Branchen neue Mitglieder zu werben, auf Deutschland übertragbar? Müssen die hiesigen Gewerkschaften sich nicht entbürokratisieren? Wie wichtig sind Themen jenseits der klassischen Tarifpolitik, die sich um Löhne, Arbeitsplatz-Qualität und Weiterbildung dreht?In einer Literaturstudie über neue Strategien von Gewerkschaften in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Österreich, den USA und Skandinavien haben Wissenschaftler der Böckler-Stiftung untersucht, wie und mit welchem Erfolg Gewerkschaften auf ihre Krise reagieren: neue Kampagnen-Techniken, unkonventionelle Bündnis-Politik, Fusionen, mehr Mitglieder-Beteiligung. Eine Tagung von Gewerkschaftern und Wissenschaftlern, die sich jüngst mit diesen Forschungsergebnissen beschäftigte, zeigte: Das Feld ist noch sehr unübersichtlich. Es gibt vorerst keinen Kern, um den sich die Debatte dreht, es gibt viele Suchbewegungen. Es ist noch nicht einmal klar, wie weit die Erneuerung reichen soll oder muss: Geht es gar um "eine Art Neuerfindung der Gewerkschaften", wie es in der Studie gefordert wird?Zunächst einmal geht es unter anderem darum, alte Kompetenzen wieder aufleben zu lassen. Zwei Beispiele: Was heute unter der Überschrift work-life-balance diskutiert wird, war für die IG Metall bereits Anfang der achtziger Jahre ein Thema, als sie für die 35-Stunden-Woche auch mit dem Argument kämpfte, so sollen die Eltern Berufsleben und die Erziehung ihrer Kinder besser als zuvor in Einklang bringen können. Das zweite Beispiel: Die Rente mit 67, die generell längeren Lebensarbeitszeiten rücken die Tatsache in den Mittelpunkt, dass es viel zu wenige gesunde Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmer gibt. Gesunde Arbeitsplätze brauchen jedoch nicht nur die Alten, auch die Jungen. Wenn also die Humanisierung der Arbeitswelt heute wieder ein großes Thema wird, dann können die Gewerkschaften auf einen Schatz an Erfahrungen zurückgreifen: In den Siebzigern war dies bereits einmal ein bedeutendes Thema für die Politik und in den Betrieben.Es geht aber auch darum, Neuland zu betreten. Beispiel: Die Gewerkschafts-Mitglieder sind Arbeitnehmer, sie sind aber auch Konsumenten. Wie wäre es denn, wenn keiner der noch gut 6,5 Millionen Gewerkschafter in Deutschland und keiner seiner Angehörigen bei Lidl einkaufen würde? So lange boykottieren, bis der Discounter höhere Löhne bezahlt und Betriebsräte zulässt? Die Dienstleistungs-Gewerkschaft ver.di ist auf diesem Feld am weitesten: Mit Kampagnen, die auf Jahre angelegt sind, versucht ver.di asozial handelnde Discounter wie Schlecker und Lidl unter Druck zu setzen und in diesem Sinne andere Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Konsumenten zu mobilisieren. Die Gewerkschaft handelt als soziale Bewegung und trifft die Arbeitgeber dort, wo sie oft genug am verletzlichsten sind: am Image. Ver.di ist auch die Gewerkschaft, die führend bei öffentlichen Kampagnen dabei ist, wenn es gegen den Börsengang der deutschen Bahn oder gegen die Privatisierung von Kliniken geht.Zu den neuen Strategien gehört jedoch nicht nur die Drohung mit dem Konsumenten-Boykott, sondern auch die Drohung mit Kapital-Entzug: US-Gewerkschaften, die in Milliarden-Höhe Pensionsgelder ihrer Mitglieder bei dem Finanzinvestor Blackstone angelegt haben, drohen diesem, sie wollten ihre Gelder abziehen, wenn Blackstone bei der Deutschen Telekom (Blackstone hält dort 4,5 Prozent) nicht dafür sorge, dass der geplante Umbau weniger radikal ausfalle.Neue Zielgruppen, gewiss. Aber Illegale, Wanderarbeiter, Ausländer?Es ist Neuland, die Gewerkschaft als soziale Bewegung zu begreifen. In den USA gehen Gewerkschaften bereits seit Jahren zuweilen Bündnisse mit Umwelt-, Frauen-, Konsumenten- und Studentenorganisationen ein. So hat sich die Apollo Alliance gegründet, eine Vereinigung von Gewerkschaften, Umweltschützern und Bürgerrechtlern, die für höhere öffentliche Investitionen, erneuerbare Energien und mehr qualifizierte Jobs eintreten. In New York mischt sich diese Formation konkret in die Stadt-Politik ein.Wie können neue Zielgruppen organisiert werden? Wollen die Gewerkschaften überhaupt neue Zielgruppen? Die hochqualifizierten Informatiker, wissenschaftlichen Angestellten, angestellte und freie Kreativ-Designer, das ist keine Frage. Aber: die Illegalen, die oft gering qualifizierten Frauen, die Wanderarbeiter und Ausländer? Schließlich ist da für Gewerkschaften nicht viel zu ernten: viel Arbeit, geringe Beiträge und wenig Ansehen.Viele Suchbewegungen also. Vielleicht schält sich diese neue Grundidee heraus: Gewerkschaften verstehen die Arbeitswelt in einem weiten Sinne und sehen ihre Mitglieder nicht nur wie bisher als Arbeitnehmer, sondern auch als Konsumenten, als Bewohner und Bürger einer Stadt, als Eltern, als Pensionäre - und handeln entsprechend.Auf der erwähnten Tagung blitzte wieder die Kluft auf, die zwischen dem Alltag und den neuen Entwürfen liegt. So sagten Gewerkschaftsfunktionäre: Wir wissen nicht einmal, wie wir die Mitglieder halten wollen. Diejenigen, welche nach Erneuerung verlangen, entgegneten: Ihr müsst die Organisation nur entschlacken und demokratisieren, die Mitglieder beteiligen, dann kommen sie. Die Skeptiker: Die wollen sich doch gar nicht beteiligen, die wollen, dass wir die Probleme für sie lösen, die wollen delegieren, deshalb sind sie Mitglied geworden. Die Erneuerer satteln noch eins drauf: Wir brauchen neue Themen: Frauen, Ökologie, Bürgerrechte.Wer den jungen inhaltlich quirligen Wissenschaftlern zuhörte, der musste auf diese Idee kommen: Die müsste man mal mit den Gewerkschaftsvorsitzenden zusammen sperren, wenn die in Berlin über die Trendwende - siehe oben - diskutieren. Da würde man gern zuhören.Literatur dazu: Juri Hälker, Claudius Vellay (Hrsg.), Union Renewal - Gewerkschaften in Veränderung, edition der Hans Böckler Stiftung, Düsseldorf, 2006; Ver.di (Hrsg.) Schwarzbuch Lidl Europa, Berlin, 2006; zu beziehen über ver.di, Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin; Informationen zu dieser Kampagne im Netz: http://lidl.verdi.de
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