Viel Wunschdenken

Gedenken Im Sommer 1992 griffen in Rostock-Lichtenhagen ausländerfeindliche Bürger vietnamesische Vertragsarbeiter an. Der Bundespräsident erinnert an dieses dunkle Ereignis

An diesem Wochenende geht ein Gedenkmarathon anlässlich des 20. Jahrestages der ausländerfeindlichen Übergriffe von Rostock-Lichtenhagen zu Ende. Showdown war die Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck. „Wir haben gelernt!“ lautete die zentrale Botschaft der Hansestadt, während in den letzten Wochen die abstoßenden, erschreckenden und peinlichen Bilder jener Tage im August 1992 erneut ins Gedächtnis gerufen wurden.

Die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen war damals derart überfüllt, dass die Hoffnung vieler Flüchtlinge auf dem Stück Rasen vor dem Sonnenblumenhaus endete. Ohne Zelte, sanitäre Anlagen ohne Essen. Die Wut der Lichtenhagener wäre dadurch gewissermaßen vorprogrammiert, glauben viele Lichtenhagener heute, sie hätten einfach nicht gewollt, dass sich ihr Vorgarten in eine Kloake verwandelt, erklärte ein alteingesessener Bürger am Schnell-Imbiss in 150 Meter Sichtweite zum Sonnenblumenhaus. Über Tage nahm damals ein entfesselter Mob fahrt auf, bepöbelte die Flüchtlinge und vietnamesischen Vertragsarbeiter, unter dem Beifall tausende Schaulustiger warfen Nazis Steine und steckten das Asylbewerberheim in Brand.

Amnestierung der Täter

Die Politik war Schuld, glauben die Männer vor dem Imbiss, sie hätte die Ausschreitungen billigend in Kauf genommen, wenn nicht sogar provoziert, um die neuen Ausländergesetze durchzudrücken, vermutet einer: „Aber wir kommen jetzt dreimal im Jahr ins Fernsehen.“ Nicht wenige Lichtenhagener fühlen sich heute als Sündenböcke und nicht als Schuldige. Warum, ist unklar, denn damals musste lediglich der Polizeipräsident seinen Posten räumen und erst zehn Jahre später wurden gerade mal drei Täter wegen Mordversuchs und schwerer Brandstiftung für schuldig befunden, kamen aber mit Bewährungsstrafen davon. Am Mittwoch hat sich die Rostocker Bürgerschaft bei den Opfern entschuldigt und auch in dieser Erklärung steckt eine stillschweigende Amnestierung der Täter vor Ort, wenn dort heisst: "Die verantwortlichen Behörden von Bund, Land und der Hansestadt Rostock haben damals versagt.“

Das Motto „Lichtenhagen bewegt sich“ unter dem die offiziellen Gedenkveranstaltungen der Hansestadt standen, ist sicherlich ein gutes Stück Wunschdenken und Imagepflege wie linke Gruppen und Initiativen kritisieren. Zweifelsfrei ist jedoch auch, in Rostock hat sich seit 1992 einiges getan. Es gibt zahlreiche Initiativen, die sich für die Belange von Migranten einsetzen, das einzige Asylbewerberheim in Rostock hat derzeit 220 BewohnerInnen. Auf dem begrünten Gelände stehen mehrere einzelne Wohnhäuser, es gibt einen Spielplatz und Gartenmöbel. Ein bisschen sieht es aus wie ein Ferienlager, in das man auch seine Kinder schicken würde, was man von vielen Asylbewerberunterkünften in Deutschland wohl nicht denken würde.

Menschenwürde ist antastbar

„Es gab nach 1992 in weiten Teilen der Verwaltung das Bekenntnis, wir wollen mit den Menschen, die als Flüchtlinge zu uns kommen, anständig umgehen“, erklärt Sozialarbeiter Steffen Vogt. Diese Veränderungen lassen sich aber nicht an den konjunkturellen Phasen des Erinnerns messen, nicht an Sonntagsreden. Bundespräsident Joachim Gauck sprach in seiner Rede hinter dem Sonnenblumenhaus vor etwa 3.000 Menschen. „Auch wenn wir mit Konflikten konfrontiert werden, auch wenn gelegentlich Parallelgesellschaften das Miteinander gefährden”, das Leitmotiv müsse sein, “die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Garantie der Menschenwürde sei an keine Bedingungen geknüpft, an keine Herkunft, keine Hautfarbe, keinen Pass, kein Papier, keinen Stempel.“ Gauck weiß selbst, dass das nicht stimmt. In seiner Rede verwies er auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Juli feststellte: Asylbewerber leben in Deutschland unterhalb eines „menschenwürdigen Existenzminimums.“

Dieser Zustand wurde durch den sogenannten “Asylkompromiss” 1993 legalisiert. Die massive Einschränkung des Grundrechts auf Asyl und die Senkung der Sozialleistungen für Asylbewerber um etwa 30 Prozent unter das Sozialhilfeniveau gilt heute als unmittelbarer Folge der ausländerfeindlichen Stimmung, die Anfang der 90er in der Bundesrepublik vorherrschte und in den rassistischen Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen und den Mordanschlägen in Mölln gipfelte. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Jennifer Stange ist freie Journalistin und lebt in Dresden

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