Auch Menschen mit der sympathischen Eigenschaft, nicht immer alles so negativ sehen zu wollen, dürfte es schwer fallen, in den jüngsten medienpolitischen Entwicklungen in Russland das Positive zu erblicken. Letzte Woche wurde dort der einzig verbliebene private Fernsehkanal mit überregionaler Reichweite abgeschaltet. Ins Licht der internationalen Aufmerksamkeit war TV-6 erst im April vergangenen Jahres gelangt, als nach der Enteignung des Privatkanals NTV ein Großteil der dort arbeitenden Journalisten zu dem bis dato lediglich für seine frivolen Talkshows bekannten Sender wechselten. Seither konnte TV-6 erheblich an seriösem Profil und an Zuschauerquote gewinnen. Davon hat sich das Gericht, das die Abschaltung nun verfügte, aber nicht beeinflussen lassen. Denn wie auch von Seiten der russischen Regierung stur beteuert wird, erfolgte das Urteil auf rein wirtschaftsrechtlicher Grundlage. Nun war Russland schon immer das Land, in dem die bloßen Fakten für sich genommen wenig aussagen - allein es kommt darauf an, sie zu interpretieren! Jedes Ereignis zieht also seine Deutungsversionen nach sich, die von der rein wirtschaftsrechtlichen Auseinandersetzung ist allerdings die am wenigsten glaubhafte.
Die russischen Zeitungen stellen, ganz im Geist moderner Massenunterhaltung, die Auseinandersetzungen um TV-6 lieber in einem anderen Genre dar: als Thriller um Macht und Geld, in dem sich alte Seilschaften und neue Rivalen bekämpfen. In dieser Version führt Putin einen Feldzug zur Vernichtung der "Oligarchen", jener Magnaten, die im letzten Jahrzehnt zu viel Geld und dementsprechend viel Einfluss gekommen sind. Mit dem Eigentümer von TV-6 hat sich Putin nun einen seiner früheren Mitstreiter vorgenommen; das Erstaunliche ist letztlich, dass Boris Beresowski aus seiner Medienmacht kaum Kapital fürs eigene Ansehen schlagen konnte; mag er sich auch selbst zum letzten Mohikaner der russischen Meinungsfreiheit stilisieren, zu deutlich steht der Bevölkerung vor Augen, dass sein Vermögen nicht ganz ehrlich verdient sein kann. Putin dagegen erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Der russische TV-Zuschauer sei letztlich sogar froh, so liest man, nun nicht länger mit den eindringlich vorgetragenen Schreckensmeldungen und Enthüllungen von TV-6 belästigt zu werden. Ganz auf Linie - mehr Positives! - verabschiedet man das Oligarchenfernsehen mit Dank für den geleisteten Innovationsschub.
Einzig die Journalisten des betroffenen Senders und diverse Intellektuelle sehen das Geschehen wieder anders: Für sie handelt es sich um einen von Putin betriebenen Angriff auf die Meinungsfreiheit, Teil einer langgehegten Strategie, sich "Staat und Gesellschaft gefügig zu machen". Mit düsteren Prognosen über den Rückfall Russlands in sowjetische Verhältnisse versuchen sie die eigene Öffentlichkeit und den Westen zu Protesten herauszufordern. In Europa folgt man zwar ihrer Version, bleibt bislang aber zur großen Enttäuschung der engagierten Journalisten äußerst zurückhaltend.
Europa hat nämlich seine eigenen medienpolitischen Probleme, zum Beispiel Silvio Berlusconi - wenn man so will, die italienische Variante eines Oligarchen - , der acht Monate nach seinem Wahlsieg entgegen aller Versprechen noch immer keine Lösung für den Interessenskonflikt, Ministerpräsident und gleichzeitig Medienmagnat zu sein, gefunden hat. Einen medienpolitischen Durchmarsch wie Putin muss Berlusconi also gar nicht mehr vollbringen, dafür setzt er nun zum kulturpolitischen Durchmarsch an: Zentrale Stellen im Kino- und Kunstbetrieb werden zur Zeit Zug um Zug mit seinen eigenen Leuten aus dem Fernsehumfeld besetzt. Auch hier regt sich trotz zweifelhafter Entscheidungen bislang kaum internationaler Protest.
Was soll man machen, er ist nun mal gewählt, hört man in bezug auf Berlusconi immer wieder; ähnliches gilt für Putin. Unterdessen schreitet der Prozess der Medienkonzentration in allen Ländern Europas voran. Er zieht Politiker nach sich, die sich offensichtlich nicht mehr mit der bloßen Gastrolle im Fernsehen zufrieden geben. In diesem Sinne könnte Russland auf einmal nicht mehr das schlechte Beispiel einer Rückwärtsentwicklung darstellen, sondern im Gegenteil eine erschreckend aktuelle Variante moderner "Mediendemokratie".
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