In der Redaktionssitzung der Zeitung Cumhuriyet wurde darüber debattiert, ob man die jüngste Suspendierung von gut 9.000 Polizisten auf Seite 1 als Aufmacher bringen sollte – oder gar nicht. Nach kurzer Debatte einigte man sich auf einen Kompromiss: auf Seite 1, doch nur als zweispaltige Meldung. Zur gleichen Zeit riefen befreundete Journalisten aus Deutschland, Frankreich und Schweden an und fragten: „Engin, was ist los? 9.000 Polizisten, was soll man davon halten?“
In der Türkei sind Zeitungsleser und TV-Zuschauer weder erstaunt noch irritiert. Seit dem laienhaften Putschversuch im Vorjahr wird die uniformierte wie nicht uniformierte Staatsbürokratie ausgewechselt. Nimmt man den höheren Dienst, dann wurden 3.939 Offiziere, Akademiker, Richter, St
emiker, Richter, Staatsanwälte wie leitende Mitarbeiter von Ministerien suspendiert. Hinzu kamen etwa 148.000 Personen aus dem Unter- und Mittelbau des öffentlichen Dienstes, denen Gleiches widerfuhr. Man muss sich die Suspendierung als Verfahren vorstellen, bei dem die Betroffenen aus dem Dienst entfernt werden, bis die Ermittlungen abgeschlossen, Schuld oder Unschuld bewiesen sind. Die Zahl derer, die bisher entlastet und wieder eingestellt wurden, ist so niedrig, dass man sie nicht in Prozent oder Promille beziffern, sondern lediglich von einem Zehntausendstel reden kann.Die regierende AKP – besser gesagt: die Erdoğan-Herrschaft – teilt ihren Anhängern mit, sie säubere den Staat von in ihm nistenden Sympathisanten der Gülen-Bewegung, was teilweise zutrifft, größtenteils aber gelogen ist. Sicher befinden sich unter den Entlassenen Anhänger der Gülen-Gemeinde, wobei völlig belanglos ist, ob sie am Umsturzversuch beteiligt waren oder nicht. Gleichwohl ist die über das Land rollende Welle der Suspendierungen nicht auf „Gülenisten“ beschränkt. Tatsächlich müssen im gesamten öffentlichen Dienst jene weichen, von denen bekannt ist oder verbreitet wird, sie seien keine AKP-Sympathisanten. Kurzum, es werden Militär-, Polizei-, Justiz- und Universitätskader derart komplett ausgetauscht, dass am Ende nur Personal verbleibt, das absolut loyal zu Präsident Erdoğan und einem politischen Islam steht, wie er in der Türkei zur Staatsdoktrin geworden ist.Warum geschieht das? Wenn man sich mit einer Kurzanalyse begnügt, lautet das Ergebnis, die AKP schickt sich an, einer 200 Jahre alten Staatspolitik ein Ende zu bereiten, deren Wurzeln schon vor Gründung der Republik im Jahr 1923 entstanden. Sich gen Westen zu wenden, galt als Axiom aller staatstragenden Parteien, unabhängig davon, welcher Ideologie und Programmatik sie folgten. Das bedeutete im Umkehrschluss, man stand mit dem Rücken zum Osten. Recep Tayyip Erdoğan ist entschlossen, dies umzukehren, sich dezidiert von der EU abzuwenden und eine Mitgliedschaft zu verwerfen. Was an Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel erhalten bleibt, soll auf den Handel beschränkt sein. Das heißt auch Abkehr von den Kopenhagen-Kriterien, wie sie 1993 auf einem EU-Gipfel als Mindeststandards für eine Aufnahme in den Staatenbund formuliert wurden. Wer dem eine Absage erteilt, will dem europäischen Demokratie-Begriff ebenso abschwören wie den Werten eines Rechtsstaates und sich dem totalitären Führungsprinzip von sunnitischen Ländern wie Saudi-Arabien und Katar annähern.Ein maßgeblicher Schritt in diese Richtung war das Referendum vom 16. April, das den Weg hin zu einer neuen Verfassung ebnete. Darin wird ein Präsidialsystem nicht westlicher, sondern – mit Erdoğans Worten – „türkischer Art“ verankert, das sich Gewaltenteilung ebenso verschließt wie parlamentarischer Mitsprache. Das Risiko dieser Orientalisierung der Türkei besteht für Erdoğan darin, dass sie bestenfalls von 51,6 Prozent der Bevölkerung gebilligt, doch von 48,4 Prozent ausgeschlagen wird. Die Opponenten wollen ein politisches System, das unterschiedliche Weltanschauungen und Lebensweisen der Bürger respektiert.Diese knapp „50 Prozent“ werden sich gegen ein islamisiertes Bildungssystem und den Verlust traditioneller Bindungen an Europa vehement wehren. Um diesen Widerstand verhindern und Aktivisten bestrafen zu können, braucht die AKP eine starke, loyale Sicherheitsbürokratie. Es genügt nicht mehr, als Regierung die Befehlsgewalt über Armee, Polizei und Justiz zu haben – deren Personal muss die Militanz der AKP-Herrschaft teilen. Es wäre nicht verkehrt, die gigantische Säuberungsaktion als Schutzschild des „Präsidialsystems türkischer Art“ zu deuten.Die oberflächliche wie leichtfertige Position von EU-Politikern – wir dürfen die Beziehungen zur Türkei nicht kappen, wir sollten Erdoğan wegen des Flüchtlingsdeals nicht ärgern – ignoriert komplett, mit welcher Türkei man demnächst konfrontiert sein wird.