Nicht erst mit der Terrorgefahr wächst das Sicherheitsbedürfnis unserer Gesellschaft. In den Debatten, für die auch Wortneuschöpfungen wie Lebensmittelsicherheit oder Energiesicherheit symptomatisch sind, zeichnet sich laut Frédéric Gros’ Politisierung der Sicherheit die bislang letzte Metamorphose des Strebens der Menschheit nach einem geschützten Leben ab. Gros, Philosoph und Foucault-Spezialist – er gehört zu den Herausgebern seines Nachlasses –, untersucht das Principe Sécurité (so der Titel der französischen Originalausgabe) in einem langen, heterogenen Zeitraum zwischen der Antike und unserer eigenen Gegenwart. Geschichte fasst er dabei ähnlich wie Michel Foucault als diskontinuierliche Abfolge von Diskurse
Abfolge von Diskursen: Unterschiedliche „Sinnherde“ hätten das Verständnis von Sicherheit in den verschiedenen Epochen in jeweils anderer Bedeutung aufleuchten lassen. Neu sei heute, dass das Fließen der Daten-, Energie- und Warenströme gewährleistet werden müsse.Gros ist ein interdisziplinär geschulter Denker, der seine Überlegungen in ein weites Panorama einbettet, das philosophische, historische und politikwissenschaftliche Aspekte umfasst. Man ahnt es: Frühere Jahrhunderte hatten komplett andere Vorstellungen, wenn sie an Sicherheit dachten. In der Antike soll Sicherheit sogar mit Risikobegrenzung überhaupt nichts zu gehabt haben. Der französische Philosoph leitet – vielleicht ein wenig voreilig – aus dem Bedeutungsgehalt des lateinischen Worts securitas ab, dass im antiken Rom Sicherheit in der Zitadelle des eigenen Bewusstseins gesucht wurde und den Zustand geistig-psychischer Ruhe (ataraxia) meinte, den die Stoiker und Epikureer mit ihren „Selbstpraktiken“ anvisierten.Aus dem TraumhausAusgerechnet in den religiösen mittelalterlichen Gesellschaften sieht Gros ein radikal den Lebensverhältnissen zugewandtes Sicherheitsparadigma aufbrechen. Das „Traumhaus Sicherheit“ (Stefan Zweig) sollte nun das Welthaus selbst sein. Noch in der kommunistischen Vision einer klassenlosen Gesellschaft wirkt diese Auffassung nach. Die ersten Akteure dieser „Objektivierung“ der Sicherheit seien jene Strömungen gewesen, die unter Berufung auf biblische Prophezeiungen ein egalitäres 1000-jähriges Reich, das der Apokalypse vorausgehen solle, erwarteten.Mitunter brandschatzend und massakrierend, versuchten sie einem „Sonntag der Geschichte“ – dem wiedergefundenen Paradies einer real existierenden Gefahrenlosigkeit – den Weg zu bahnen. Zum politischen Phänomen im eigentlichen Sinn, sagt Gros, wurde die Sicherheit in der Frühen Neuzeit. In den Gesellschaftsvertragstheorien von Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau werden Sicherheit und Staat zusammengedacht. Der neuzeitliche Staat definierte sich als Garant von Sicherheit und vollzieht diese Funktion seitdem in der Rolle des Richters (Garant der Grundrechte), des Polizisten (Beschützer von Leben und Eigentum) und des Soldaten (Beschützer des nationalen Territoriums).Gros zeigt, wie der Staat sich im Spannungsfeld dieser drei Rollen nahezu zwangsläufig immer wieder in Widersprüchlichkeiten verfängt. Die juristische Sicherheit beispielsweise wird nicht nur in Zeiten des „Ausnahmestaates“ schnell zum Opfer der polizeilichen Sicherheit. Gros übersieht nicht, dass der neuzeitliche Staat selbst ein beträchtliches Sicherheitsrisiko darstellen kann (Stasi, das Kürzel, zu dem in der DDR die Wortverbindung von Staat und Sicherheit zusammengeschrumpft ist, ist ein deutlicher Ausdruck dafür). Im 20. Jahrhundert sind beispielsweise mehr Menschen Opfer ihres eigenes Staats als Opfer fremder Staaten bei kriegerischen Auseinandersetzungen geworden (35 Millionen gegenüber 165 bis 170 Millionen), auf die asymmetrischen Kriege der Gegenwart geht er allerdings nicht ein, seine Diskussion des Staats endet mit dem Kalten Krieg.Gleichwohl verbindet Gros mit der neuzeitlichen Synthese von Staat und Sicherheit etwas Positives: Die Gewährleistungen des neuzeitlichen Staats eröffnen für ihn viel mehr als das nivellierte „Herdenglück“ (Nietzsche) eines friedlichen Überlebens.Sie institutionalisieren die Möglichkeit, seine Freiheit als gestaltende Potenz in das Gemeinwesen einzubringen.Vor dem Hintergrund dieser neuzeitlichen Zurüstung des Staats zum Sicherheitsgeber und der damit verbundenen Ermächtigung des Individuums zum politischen Subjekt muss Gros es als Entpolitisierung sehen, wenn Sicherheit auf die Störungsfreiheit und Kontrollierbarkeit von Prozessen zielt. Nicht mehr der Bürger, sondern die „Bevölkerung“ und die „Ströme“, die zu deren Gedeihen nötig erscheinen, stehen im Zentrum. Die Anfälligkeit dieser Konstellation kann der Terrorismus ausnutzen, leider entwickelt Gros diesen Gedanken nur beiläufig.Andererseits anerkennt er, dass das neue Sicherheitsparadigma – er fasst es unter dem etwas missverständlichen Namen Biosicherheit zusammen – eine humanitäre Care-Politik begründen kann. Gleichzeitig hat es für ihn mehr als zweifelhafte Auswirkungen auf ein gesichertes Leben. Zum einen, deutet Gros an, bringt die Sorge um Fluidität den Zwang zu einer umfassenden Vernetztheit und ständigen Erreichbarkeit mit sich. Die securitas eines zurückgezogenen Lebens, wie sie in der Sicherheitsauffassung der Antike ihr goldenes Zeitalter erlebt hatte, ist so kaum mehr realisierbar.Wie schlau sind die Märkte?Eine zweite Konsequenz ist noch verhängnisvoller. Das aktuelle Sicherheitsparadigma hat eine seiner wirkungsmächtigsten Anwendungen in dem neoliberalen Zutrauen an die Weisheit der Märkte. Einem ökonomischen Denken, das an „sichere“ Resultate nur dann glaubt, wenn das „Strömen“ der Globalwirtschaft der freien Selbstregulierung überlassen bleibt, müssen Eingriffe, vermittels derer ein gesellschaftspolitischer Gestaltungswille auf die Gefährdung von Existenzen reagiert, als ein abzuwehrendes Sicherheitsrisiko erscheinen.Angesichts der zerstörerischen Konsequenzen einer sich selbst überlassenen Marktwirtschaft droht so paradoxerweise die Sicherheit selbst (wenn sie, nach aktueller Maßgabe, als ungestört ablaufender Prozess verstanden wird) zum Vollzugsmodus einer Katastrophe zu werden.Placeholder infobox-1