Ruhe, jetzt

Phänomen Wie ist das, wenn ein Mensch Stimmen hört? Unser Autor kennt sich aus. Bericht von einem Stimmen-Hörer-Kongress
Ausgabe 51/2017
Ruhe, jetzt

Illustration: der Freitag

Stimmengewirr im Parlamentsraum des Rathauses Neukölln, in dem sonst die Bezirksverordnetenversammlung tagt. Es ist der erste Morgen eines zweitägigen Kongresses mit dem Titel „Wer be-stimmt was?“, den das Netzwerk Stimmenhören e.V. in diesem Jahr zum elften Mal ausrichtet. Über 200 Menschen sind gekommen. Besucherrekord. Alle vom Fach. Die einen, weil es ihre Profession ist: Psychiater, Therapeuten, Sozialarbeiter. Die anderen, weil sie selbst Stimmen in ihrem Kopf hören. Sie sind Experten aufgrund ihrer Erfahrung. Niemand sitzt hier im Raum, der sich mit dem Thema nicht auskennt.

Dann ein Gong. Eine Klangschale wird an das Mikrofon des Rednerpultes gehalten. „Klangschalen, ist das nicht dieser Hokuspokus?“, wird später eine Betroffene in einem Video von ihren anfänglichen Vorurteilen berichten. Aber dann auch, dass ihre Stimmen nach einer Klangschalen-Therapie nicht mehr so penetrant sind wie vorher. Der Gong hallt lange nach, bis seine Schallwellen nur noch ganz leise durch den Raum wabern. Er beruhigt. Mindestens die Stimmen im Saal, die man direkt zuordnen kann. Die verstummen. Wenigstens die.

Eine freundliche Frau ergreift das Wort. Sie ist die Vorsitzende des Netzwerks und heißt alle Anwesenden willkommen. Alle Experten also. Mir ist wichtig, dass nicht explizit zwischen Experten und Betroffenen unterschieden wird. Auch die Stimmen in meinem Kopf machen jetzt Pause. Das ist immer so, wenn ich mich auf etwas konzentriere. Auf ein Gespräch, einen Vortrag, eine Aufgabe. Ganz egal. Wenn Input kommt, halten meine Stimmen den Mund. Da bin ich ganz froh.

Es gibt einen Ruheraum, erfahren wir. Für alle, denen es vielleicht zu viel wird. Denn wer Stimmen hört, ist latent reizüberflutet. Verständlich. Da muss der Geist schon mal innehalten. Vor allem, wenn die Stimmen nicht schweigen. Nicht jeder hat das Glück, das ich habe, dass meine Stimmen den Mund halten, wenn andere etwas Wichtiges zu sagen haben.

Der Kongress feiert sein zehnjähriges Jubiläum, erfahren wir. Vom Schirmherrn, dem Bezirksstadtrat für Jugend und Gesundheit in Neukölln. Als würde es sich um die Angelegenheit eines Bezirks handeln, denke ich. Wieso ist Frank-Walter Steinmeier nicht hier der Schirmherr? Oder der Papst? „15 Prozent aller Menschen haben außergewöhnliche Wahrnehmungen, drei bis fünf Prozent aller Menschen hören Stimmen, das heißt, sie hören ganz real gesprochene Worte, die nur sie selbst hören können“, heißt es auf der Website des Vereins. „Die Stimmen können unterschiedliche Lautstärke und verschiedene Charaktere haben. Sie können als störend empfunden werden und unter Umständen viel Leid hervorrufen. Sie können aber auch eine schützende Funktion haben und unter günstigen Bedingungen eine Lebensbereicherung sein.“ So ist es.

Wir erhalten einen Ausblick darauf, dass sich in diesen zehn Jahren viel getan hat in der Psychiatrie. Es gibt heute Fachleute, die sich trauen, Dinge auszusprechen, die damals noch als unsagbar galten. Weil man sich sonst Feinde gemacht hätte auf der Welt. Zum Beispiel in der Pharmaindustrie. Die große Frage, das große Thema des Kongresses soll sein, ob es möglich sein kann für stimmenhörende Menschen, ganz auf Medikamente zu verzichten und trotzdem „ein gutes, selbstbestimmtes Leben führen zu können“. Denn Medikamente für Stimmen-Hörer haben Nebenwirkungen. Zum Teil sogar ganz erhebliche. Ein Redner später wird sie Drogen nennen.

Tonnen von Neuroleptika

Dr. Volkmar Aderhold, der in Hamburg und Greifswald in Psychiatrie forscht, sagt in seinem Vortrag, es mache ihn nervös, seine Wissenschaft verständlich an Betroffene zu bringen. Immerhin muss er möglicherweise gegen die ein oder andere innere Stimme ankämpfen. Was ihm im Folgenden gut gelingt. Seine Thesen sind steil, aber sie treffen den Nerv der Patienten. Er hält, damit beginnt er seinen Vortrag, die Diagnose Schizophrenie – und jeder mit dem Symptom „Stimmen hören“ erhält in unserem Gesundheitssystem diese Diagnose – für ein längst überholtes „Konstrukt“. Immer wieder wird sein Vortrag unterbrochen von Betroffenen, die sich wiederfinden in dem, was er schildert. Sie erzählen ihre Geschichte, und Dr. Aderhold lässt sie gewähren, geht auf sie ein und knüpft wieder den Bogen zu seinen Power-Point-Folien. Mittlerweile sei es „Mainstream“ unter den Psychiatern, Kritik an der jahrzehntelangen Praxis der Verschreibung von Psychopharmaka aussprechen zu dürfen. Man sei viel zu lange einem „Herdentrieb“ gefolgt und habe sich „extrem getäuscht“.

Was heißt das? Gemeint ist, dass Generationen von Ärzten ihren Patienten Tonnen von Neuroleptika, das sind anti-psychotisch wirkende Präparate mit zum Teil erheblichen Nebenwirkungen, verordnet haben. Damit die Stimmen aufhören. Was oft auch gelingt. Allerdings kommen den Patienten dann auch andere Fähigkeiten wie Konzentration, klares Denken oder motorische Kontrolle abhanden. Vor allem: Die Lebensqualität geht verloren. „Muddelig werden im Kopf“, nennt das Dr. Aderhold. Ganz zu schweigen von anderen Nebenwirkungen wie Fettleibigkeit, Herzrhythmusstörungen, erhöhtem Diabetes-Risiko.

„Psychiatrie ist im Grunde ein ganz gutes Geschäft“, sagt er und spielt damit nicht nur auf die Pharmaindustrie an, die mit Neuroleptika weltweit Milliarden umsetzt, sondern auch auf seine Kollegen, denen ein kranker Patient leider mehr einbringt als ein gesunder. Dabei sei es wichtig, Neuroleptika nicht als „heilend“ anzusehen, sondern nur als einen „Kompromiss“. Denn letztlich doktern Medikamente in diesem Segment nur an den Symptomen herum. Das sei heute der Stand der Forschung. „Bei einem defekten Radio“, so zitiert er einen amerikanischen Kollegen, ließe sich „durch Leiser-Stellen zwar das lästige Rauschen unterdrücken, ohne jedoch das zugrunde liegende Problem der Fehlfunktion zu beheben.“

Eine Teilnehmerin beschreibt sachlich und differenziert, dass ihre Stimmen ihr verbieten würden, Medikamente einzunehmen und dass sie sich jedes Mal, wenn sie auf ihre Stimmen hört, in eine geschlossene Psychiatrie einweisen lassen muss, bis hin zur Zwangsmedikation. Für Aderhold Anlass, darauf hinzuweisen, dass letztlich nicht der Arzt entscheiden könne, was richtig für den Patienten ist, sondern nur dieser selbst. Denn, so schließt er seinen Vortrag, manche Ärzte seien „leider nicht gut belesen“. Das Plenum applaudiert. Beiden.

Dann ein Vortrag des amerikanischen Psychotherapeuten Will Hall. Selbst einst Stimmenhörer, bezeichnet er sich als „Überlebender der Diagnose Schizophrenie“. Heute gilt er als Koryphäe. Er hat die Medikamente irgendwann abgesetzt.

Hall schlägt in die gleiche Kerbe: Wissenschaftliche Studien zur Wirkung von Psychopharmaka seien korrupt, sie seien meist von der Pharmaindustrie finanziert. Und man könne sich vorstellen, dass Studien, die nicht die gewünschten Ergebnisse bringen, von den Geldgebern schlicht versteckt würden. Solche Langzeitstudien seien aber heute bekannt. Man wisse heute, dass nicht hinreichend belegt sei, dass durch Medikamente eine langfristige, nachhaltige Heilung erfolgen kann. Heute hingegen gebe es mehr und mehr Stimmen, die sich trauen, das auszusprechen. Stimmen von Wissenschaftlern. Wie Aderhold. Wie Hall.

Meine Stimmen beginnen, sich zu beschweren. Mehrere Stunden Konzentration fordern ihren Tribut. „Das ist das Problem, das ist das Problem“, ruft es in meinem Kopf. Ich weiß nicht, was er damit meint, aber das sagt er immer, wenn es ihm zu viel wird. Es klingt, als wollte mich jemand beeinflussen. Das kostet Kraft. Ich höre mir noch den Vortrag der Klangschalen-Dame an, ihr Motto: „Wir sind nicht zum Aushalten geboren. Wir dürfen es uns gerne gut gehen lassen.“ Mehrere Fallbeispiele von Menschen werden vorgestellt, die bekräftigen, die beruhigende Wirkung der Schallwellen hätte frappierende Auswirkungen auf ihren Gesundheitszustand gehabt. Schallwellen statt Pillen. Denn, so hatte schon Will Hall bekräftigt, Auslöser für eine „schizophrene“ Erkrankung sei immer die Verarbeitung von Stress. Und jeder Laie weiß: Gegen Stress hilft am besten Ruhe.

Auch ich rufe mir das ins Gedächtnis und schwänze die nachmittäglichen Workshops. Ich brauche Ruhe. Das habe ich gelernt. Wenn die Stimmen trotz Input zu laut werden, muss ich raus aus der Reizüberflutung. Schweren Herzens verzichte ich auf den Workshop „Kreatives Schreiben“, für den ich mich angemeldet hatte. Und nehme mir vor, zu Hause in Ruhe etwas zu schreiben.

Ich schlafe gut. Der zweite Tag des Lehrgangs. Eine Betroffene spricht. Eine junge Frau, die nach 13 Jahren Akut-Psychiatrie-Erfahrung und Medikamenteneinnahme von sich sagt, diese Maßnahmen hätten alle überhaupt nichts gebracht. Bis sie dann irgendwann an eine Selbsthilfegruppe geriet. Hier hatte sie zum ersten Mal die Chance, über ihre Stimmen zu reden. Denn in der Psychiatrie interessiert das niemanden. Dort werden Medikamente verabreicht und Ruhe verordnet. Ein bisschen Sport vielleicht noch, und Basteln. Über Stimmen geredet wird dort nicht.

Da habe es „sie dann vom Stuhl gewedelt“, sagt sie, denn die Erfahrungen der Betroffenen erinnern sie durchweg an ihre eigenen. Durch den Dialog ist sie zum ersten Mal dazu gezwungen, darüber nachzudenken, was ihre Stimmen ihr denn überhaupt sagen wollen. Was sie bedeuten könnten. Was das alles soll.

Korrupte Studien

Meine eigenen Stimmen verstummen. Das will sich mein Gehirn anhören. Denn diese Frage beschäftigt mich auch. Sollte jeden Betroffenen beschäftigen. Die Dame fährt mit einem flammenden Appell dafür fort, sich mit seinen Stimmen auseinanderzusetzen. Hinzuhören, was sie sagen, wer da spricht, in welchem Tonfall Dinge gesagt werden. Nicht zukleistern mit Medikamenten, sondern Ursachenforschung betreiben. Aber das geht kaum alleine. Die größten Fortschritte habe sie gemacht, als sie eine Therapeutin dazu überredet habe, gemeinsam die Stimmen zu analysieren. Seitdem sei sie wieder auf den Weg in ein selbstbestimmtes Leben gekommen. Ohne Medikamente. Ob es ihr heute auch immer gut gehe oder ob die Stimmen noch da wären, fragt eine Patientin im Saal. Nein, sagt sie, manchmal ginge es ihr auch nicht so gut. Dann kämen die Stimmen zurück. Aber es gehe ja jedem mal besser und mal schlechter, und sie wisse jetzt, wie sie da wieder herauskäme. Früher hätte sie einfach eine Pille eingeworfen.

Ich muss schlucken. Jeder Betroffene hofft ja, dass er seine Stimmen irgendwann vollständig loswerden kann. Denn die Stimmen sind eine Belastung. Für jeden Betroffenen. Aber wenn es halt ein bisschen Arbeit ist, denke ich, dann ist das die Mühe wert. Heute wird es mir nicht zu viel. Heute bleibt mein Gehirn dran. Ich besuche den Nachmittags-Workshop zum Thema Psychotherapie und freue mich darauf, das Erfahrene aufzuschreiben. Damit ich es ja nicht vergesse. Oder es von inneren Stimmen übertönt wird, die mich in die Erschöpfung treiben.

Ich fasse einen Entschluss. Beim nächsten Gespräch mit meiner Ärztin will ich über die Reduktion meiner Medikamente reden. Und ich nehme mir vor, ein bisschen besser zuzuhören. „Das ist das Problem!“, sagt der Mann in meinem Kopf. Was er damit meint, werde ich schon noch herausfinden.

Peter Emmerich schreibt unter Pseudonym. Er hört seit zehn Jahren Stimmen und hat drei schizophrene Psychosen hinter sich. Er lebt und arbeitet als freier Journalist in Köln

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