Poesie Ihre Gedichtbände sind Millionenbestseller, ihre Lesungen pures Empowerment: Rupi Kaur dichtet gegen das Patriarchat und Rassismus. In Berlin tobt der Saal
Rupi Kaur dichtet ironische Insider Witze von FLINTA – gegen Patriarchat und Rassismus
Foto: Imago / MediaPunch
Rupi Kaur ist eine Star-Poetin. Ihr erster Gedichtband „Milk and Honey“ erschien 2014 und war mehr als drei Jahre auf der New York Times Bestsellerliste. Damit haben sich ihre Gedichte öfter verkauft als Homers Odyssee. Sie ist derzeit auf Welttournee (u.a. war sie in Berlin und Köln) und hat Millionen Follower:innen auf der Plattform Instagram, wo sie ihre Poesie postet. Nun hat die anglo-amerikanische Kultur ein etwas anderes Verhältnis zu Gedichten als fester Teil der kulturellen Identität und dennoch ist Rupi Kaurs Erfolg mehr als nur der Erfolg einer jungen Frau, die im Internet erfolgreich bunte Bilder in Poesieform postet.
Ihre Gedichte sind auf den ersten Blick klar und zugänglich. Sie schreibt über Ungerechtigkeiten, Misogynie, Trauma und G
Ihre Gedichte sind auf den ersten Blick klar und zugänglich. Sie schreibt über Ungerechtigkeiten, Misogynie, Trauma und Gewalt. Sie schreibt kurz und pointiert, in einfacher Sprache, ohne Umwege. Manche Gedichte bestehen nur aus einem Satz: „you break in women like shoes“. Gedichte, die zuweilen eher an Affirmationen als an klassische Poesie erinnern. Ihre Bilder sind oft eindimensional, selten nutzt sie übliche lyrische Stilelemente oder Reimmuster. Alle ihre Gedichte sind mit einfachsten Strichzeichnungen illustriert. Ihre Gedichte verbinden Menschen nicht über die elaborierte Technik, sondern über die kollektive Erfahrung, die Kaur virtuos in Worte gießt. Damit hat sie über 10 Millionen Bücher verkauft, die in 42 Sprachen übersetzt wurden. Eine schier unglaubliche Zahl für Poesie.Ihre Show Mitte Oktober im Berliner Admiralspalast ist ausverkauft. Auf der Bühne ist sie eine Mischung aus Stand-Up Comedian, Empowerment-Coach und Spoken Word Artist, mit begleitender Musik, die an die Calm-App zum Einschlafen erinnert. Eine Show wie der Gruppenchat mit den besten Freundinnen. Ein girly, (Selbstbezeichnung) dass sich selbst als „Bubbly and shit“ (also: aufgedreht und so ein Scheiß) bezeichnet, das Wort „like“ inflationär benutzt und ihre Betonungen auf die Endsilben legt. Ein girly, das sexualisierte Gewalt und Trauma in ihren Texten verarbeitet, das unter Depressionen gelitten hat (so beginnt die Lesung, mit der Auseinandersetzung ihrer Depressionen) und das Millionen mit Instagram und Gedichten erreicht und verdient. Dabei trägt sie ein tief ausgeschnittenes Kleid in dunkelblauem Glitzer und riesige Ohrringe.Viele Frauen teilen Rupi Kaurs ErfahrungenWas auf den ersten Blick wie oberflächliche self-care Tipps im Hochglanzformat daherkommt – eine Kritik, die Kaur immer wieder zu hören bekommt – ist in der Tiefe und den handwerklichen Fähigkeiten der meisterhafte Umgang mit Schmerz und Trauma, mit emotionalen und alltäglichen Ambivalenzen. Sie adressiert in ihren Texten Liebeskummer, aber auch Rassismus, die Einwanderungsgeschichte ihrer Eltern, Frauensolidarität. Sie schreibt unzweideutig autofiktional und stellt so eine Verbindung mit ihren Leser:innen her, denn ihre Erfahrungen sind die Erfahrungen vieler.Aber was sind diese Erfahrungen?Es sind Erfahrungen, die vor allem Frauen (bzw. FLINTA, denn Kaurs Publikum und Fans sind sehr divers) machen. Erfahrungen, die mit Scham und Schuld verbunden sind. Erfahrungen von sexistischer Abwertung und sexualisierter Gewalt, von zu wenig sein, zu viel, immer falsch sein. Erfahrungen von gewalttätiger Liebe, von Kindheitstrauma und der Aussöhnung mit sich selbst. Erfahrungen, die Kaur auf radikale, witzige und liebevolle Art und Weise sichtbar und teilbar macht. Ihre Kunst fühlt sich an wie ein befreiendes Gespräch über schmerzhafte Erfahrungen bei einem warmen Glas Milch mit Honig, um anschließend, die Tränen getrocknet, ein Glas Wein in einer Bar zu trinken oder auf einer Demonstration für Frauenrechte gegen das Patriarchat anzuschreien.Kaur repräsentiert junge und nicht mehr ganz so junge Frauen, die anspruchsvolle Jobs haben (die Sozialministerin von Schleswig-Holstein Amina Touré, die Moderatorin Aminata Belli und die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai sitzen in Berlin im Publikum), die an sich arbeiten, und sich mit heterosexuellen Männern privat und beruflich rumschlagen müssen. Junge und noch nicht ganz so alte Frauen, die erschöpft sind von den patriarchalen Strukturen, die immer noch auf den Schultern jeder einzelnen lasten.Die Dichterin als Medium, nicht länger als GenieGeboren in Indien emigrierte Kaurs Familie als sie drei Jahre alt war nach Kanada, wo sie in einer überwiegend punjabischen Nachbarschaft aufwuchs. Ihre Kunst, so betont sie in Interviews, ist immens geprägt von der Kultur ihrer Eltern. Mit 18 fing sie an, als Poetry Slammerin aufzutreten und ihre Texte auf Tumblr zu posten. Mit Ehrgeiz und Talent für das Erschaffen von Atmosphäre und den richtigen Auftritt schafft sie es im Eigenverlag ihren Gedichtband zu einem weltweiten Erfolg zu machen. Sie erzählt auf der ausverkauften Bühne des Admiralspalast mit seinen herrschaftlichen Balkonen und der mit rotem Samt bezogenen Bestuhlung, dass ihre Poesie damals niemand verlegen wollte. Zu banal. Das will doch niemand lesen. Also verlegte sie es selbst. Das wird keinen Erfolg haben, wurde sie gewarnt. 10 Jahre und Millionen Dollar später, wurden ihre Kritiker Lügen gestraft. Etwas, was sie nicht ohne Süffisanz auf der Bühne zu erzählen weiß. Sie selbst sieht sich dabei nicht als die geniale Künstlerin und verkörpert damit auch einen neuen Typus. Das egomanische Genie (meist männlich) wird abgelöst von der kollektiv getragenen und individuell formulierten Erfahrung. Als sie eines ihrer Gedichte vorträgt, das von dem klassischen Dilemma einer Frau handelt, die von dem Mann, in den sie verliebt ist, als „Hotelzimmer“ (Kaur) und nicht als Lebenspartnerin behandelt wird, schiebt sie voraus, dass sie dieses Gedicht nicht selbst geschrieben hat, sondern es zu ihr gekommen ist. Kaur sieht sich nicht als die geniale Künstlerin, die mit ihrem Sein Geniales tut. Sie sieht sich als Medium für erlebte Wahrheiten, als Bezugspunkt für kollektive Heilung und Empowerment. Sie zelebriert so den Tod der Autorin, während sie ironisiert über ihre eigenen Suizidgedanken spricht.Eine demütige, dankbare Haltung blitzt in diesen Momenten auf, die im radikalen Gegensatz zu ihrer Art zu reden steht. Da erinnert sie nämlich mehr als einmal an die fiese Gruppenführerin auf dem Schulhof. Aber vielleicht ist sie das auch – nur dass sie eben heterosexuelle, weiße cis Männer auf schlagfertige Art und Weise ausgrenzt. Zwischenzeitlich erinnert die Stimmung im samtig, rot bestuhlten Admiralspalast auch eher an eine politische Versammlung als an eine Lesung von Gedichten, wenn Kaur ruft „slut shaming is rape culture!“und die Anwesenden klatschen, schreien und mit den Füßen auf den Boden stampfen.Insider Witze gegen das PatriarchatSo wird die Show in Berlin zu einem Abend des kollektiven Auskotzens über ignorante Männer und das Patriarchat. Die anwesenden Frauen schreien und jubeln, wenn Kaur ruft „Not all men but a lot of them“ – es ist ein riesiger kollektiv weiblicher Insiderwitz über das Leben, das jede in diesem Raum kennt. Ein gemeinsamer Moment des Gesehen-Werdens. Es ist heilsam. Die ironische Distanz, die sich durch ihren Auftritt zieht, dient dabei als Distanz im eigentlichen Sinne, denn Lachen über Traumata, über Schmerz und Liebeskummer in einer Welt voller Ungerechtigkeit ist eine bessere Show als Weinen.Selbstermächtigung und Selbstliebe zu unterstützen, sind dabei ohnehin ihr erklärtes Ziel. Ihr viertes Buch „healing through words“ ist konsequenterweise kein neuer Gedichtband, sondern eine Art lyrisch inspiriertes Journal, in dem, mithilfe von Kaurs Gedichten, Selbstliebe geübt und praktiziert werden kann, aber auch die eigenen Schreibfähigkeiten trainiert werden können. Das verkauft sich gut – Rupi Kaur ist eine clevere Geschäftsfrau. Die Show endet mit einer direkten Ansprache an die Anwesenden, niemals aufzugeben. Sie nimmt dem begeisterten Publikum das Versprechen ab, immer für die eigenen Träume zu kämpfen. In diesen Momenten erinnert sie an die Priesterin einer neuen Kirche von Selbstliebe und Emanzipation. Als sie über den rassistischen Umgang mit Geflüchteten spricht, dem sie mehr als ein Gedicht gewidmet hat, als sie über Kolonialismus und Patriachat spricht, wird deutlich, wie politisch Kaurs Gedichte tatsächlich sind. Nun waren Gedichte immer politisch. Eine Form, um Zensur und Repressionen zu umgehen. Die Form des Gedichts ist stets ein Versuch, das Unsagbare zu sagen. Für Millionen bedeutet das Reden über erfahrene Gewalt und Unterdrückung bis heute das Unsagbare zu sagen. Dass eine junge Frau, die Rassismus und Sexismus erlebt hat, mit Gedichten über diese Erfahrungen weltweit zum Star wird, ist so gesehen keine Überraschung.
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