Es war der Traum von der Reisefreiheit, der die Russen aus ihrem eigenen Land in die Emigration getrieben hat, glaubt der Schriftsteller Wladimir Kaminer - selbst einer von den fast drei Millionen Russen, die in den letzten Jahren in Deutschland ihre zweite Heimat gefunden haben. Trotz der Weite des Riesenlandes fühlte man sich ständig hinter dem eisernen Vorhang eingesperrt und träumte von Phantasiewelten draußen. "Obwohl wir von Amerika damals kein klares Bild hatten, genügte uns allein schon die Tatsache, das irgendwo ein Land existierte, in dem alles anders als bei uns war, es zu lieben und zu verherrlichen" - schreibt Kaminer in seinem letzten Roman Reise nach Trulala. In seinem Debüt Russendisko (vgl. Freitag 48/2000) überlegte er noch fassungslos, wie er in einem amtlichen Fragebogen die Frage nach den Gründen seiner Deutschland-Einreise beantworten soll, ihm fiel nur die Formulierung "aus Spaß" ein. Mit dem neuen Buch liefert er eine eindeutige Antwort auf diese Frage.
Trulala ist ein Reiseroman, doch ein russischer Reiseroman unterscheidet sich von einem westeuropäischen genau so sehr wie sich eine europäische Reise von einer durch die endlosen Weiten Russlands unterscheidet. Man kann Tage und Wochen in einem Zug verbringen, und die Bahnhofsschilder sind immer noch russisch und immer gleiche Babuschkas in dunklen Mänteln und warmen Kopftüchern verkaufen an verschneiten Stationen gekochte Kartoffeln oder Piroggen aus großen Eimern und Sonnenblumenkerne in kleinen Gläsern. Du fährst und fährst, es ist Tag, Nacht, Tag ... die schmale Pritsche vibriert im Rhythmus der Zugräder - und trotzdem hast du das komische Gefühl, irgendwie immer am selben Ort zu sein. Was deine Reise aber bunter und spannender macht, ist die Gesellschaft der zufälligen Reisegefährten, die zwischen den zahlreichen Trinksprüchen skurrile Geschichten von Abenteuern in der exotischen sonnigen Fremde erzählen.
Genau so erzählt uns Kaminer skurrile Geschichten über die Fremde. Zum Beispiel von einer geheimen KGB-Stadt in der südrussischen Steppe. Dort ließ die Staatssicherheit ein hauseigenes "Ausland" aufbauen, damit man für Bestarbeiter und kinderreiche Mütter die Erfüllung ihres Traums inszenieren konnte. Die Stadt funktionierte im Sommer als Paris (mit Eiffelturm) und später im Herbst, wenn es zu regnen anfing und Wolken aufzogen, als London (mit Big Ben). KGB-Mitarbeiter lebten dort mit ihren Familien und durften im Sommer untereinander nur Französisch und im Herbst nur Englisch sprechen. In dreitägigen Reisen haben die auserwählten Russen die nötigen Einkäufe erledigt und bunte Eindrücke vom Ausland gesammelt, ohne den giftigen Verführungen des Kapitalismus zum Opfer zu fallen.
Russendisko bestand aus Momentaufnahmen des alltäglichen Lebens von Russen, Vietnamesen, Ost- und Westdeutschen in Boom-Town Berlin der neunziger Jahre. Kaminers zweites Buch Militärmusik ist eine ironische Abrechnung mit der Sowjetunion kurz vor ihrem Zusammenbruch. Nun schwebt sein Roman zwischen Osten und Westen, seine Spielorte sind die Krim, Paris, die USA, Sibirien, Dänemark. Der Traum von der Reisefreiheit scheint in Erfüllung gegangen zu sein. Um eine Tante in Berlin zu besuchen, brauchen die Russen nun keine Urin- und Blut-Probe mehr, keinen Ausreiseantrag und keine Erlaubnis des Komitees für Internationale Freundschaft. Sie leben in einem offenen Land und einige von ihnen sogar in Deutschland, wo sie als erstes herausbekommen, wie günstig eine Busreise in das echte Paris ist. Und trotzdem bleibt in Kaminers Buch Reisefreiheit nach wie vor nur ein Traum, fremde Länder sind nichts als eine unerreichbare Utopie, die ausschließlich in den Erzählungen von Freunden existiert. Der Autor bleibt in seiner Wohnung in der Schönhauser Allee, während ein schwuler Bundestagsabgeordneter eine Fahrradreise nach Sibirien antritt, ein Kunstgeschichtsstudent die Spuren des Kriegspiloten Josef Beuys auf der Krim untersucht und ein junges russisches Ehepaar nachts in einem Springbrunnen im Jardin du Luxembourg das Kleingeld einsammelt, weil es hungrig ist in Paris. Selbst wenn der Autor endlich eine Reise unternimmt, nach Kopenhagen zum Beispiel, bezweifelt er später, ob es überhaupt Dänemark war, weil er die ganzen drei Wochen unter lauten Verrückten im "Russen-Haus" in der Hippiestadt Christiania verbracht und weder die Königin noch wenigstens ein Schild mit dem Namen des Landes gesehen hat.
"Im Nachhinein würde ich sagen: Dieses Amerika war unsere Kindheit gewesen" - sagt Kaminer über die kollektiven Träume hinter dem eisernen Vorhang. Und die Phantasiewelten interessieren ihn eigentlich viel mehr als die realen Touristenerlebnisse. Sie sind genau wie die Erzählungen im Zug von Moskau nach Wladiwostok im Vergleich zu den düsteren weißen Landschaften hinter dem Zugfenster. Die absurden Geschichten aus dem eigenen Leben und die bunten Phantasien verschmelzen, Hauptsache - die Erzählung ist witzig und pointiert. Kaminers Emigranten haben nie Sehnsucht nach der verlassenen Heimat oder Schwierigkeiten mit der Integration. Nie sitzen sie in den Schlangen der Sozial- oder Arbeitsämter. Haben sie Geldprobleme, fällt ihnen sofort so etwas Tolles wie zum Beispiel die Bauchtanz-Nummer ein. Und fehlende Sprachkenntnisse führen nicht etwa zu Minderwertigkeitskomplexen, sondern zu lustigen Verwirrungen. Die Emigration ist für Kaminers Helden nichts als eine Reihe von spannenden Abenteuern in der verrückten Fremde. Doch auch die verlassene Sowjetunion, wie sie in Militärmusik beschrieben wurde, ist eigentlich auch Trulala-Land. Mit dem neuen Buch beweist Kaminer, die ganze Welt ist nur eine witzige Utopie, der Kindheitstraum hinterm eisernen Vorhang, ein endloses Abenteuer in der exotischen Fremde.
Wladimir Kaminer: Reise nach Trulala. Manhattan, München 2002, 187 S., 18 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.