Russische Kultur: Sollte sich das Gorki-Theater umbennen?
Pro & Contra Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird auch über die Sichtbarkeit der russischen Kultur gestritten. Soll man sie nicht weiter zeigen? Und: Wie weit soll die Solidarität mit den Angegriffenen gehen?
Sich in die Schuhe anderer zu stellen, ist gerade in Kriegszeiten eine unterschätzte Kompetenz. In Gesprächen mit zwei vor dem Krieg geflüchteten Ukrainerinnen lässt sie sich trainieren: Für sie schreibe ich diesen Meinungsbeitrag – aus Solidarität. Und um den Kopf offenzuhalten für verschiedene Perspektiven.
Beide Frauen sind keine Nationalistinnen. Sie würden auch nie behaupten, dass die Ukraine eine lupenreine Demokratie ist. Doch ihr Land in progress ist ihnen tausendmal lieber als Putins imperialistisches Retro-Russland. Unter Dauerfeuer verschieben sich unweigerlich Prioritäten. Die Korruption in der Ukraine bekämpfen – klar. Aber nicht, während die Schützengräben voll sind. Wer brutal angegriffen wird, mu
brutal angegriffen wird, muss sich verteidigen. Alles, was dem Feind schadet, nützt den Eigenen. Im Gegenzug schwächt alles, was Russland hell oder auch nur zwielichtig erscheinen lässt, den Abwehrkampf. Auch die Kunst.Der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko hat deshalb gefordert, alle russischen Künstler „unter Quarantäne“ zu stellen, inklusive Dissidenten und Exilanten. Das klingt erst mal wüst, im Gorki-Theatersessel sitzend und einer Inszenierung von Daniil Charms Texten lauschend, aber Tkatschenko meint das ernst – und rückwirkend. Rund 19 Millionen Bücher haben Verantwortliche aus den ukrainischen Bibliotheken entfernen lassen, sowjetische Literatur ebenso wie schlicht russischsprachige Werke. Eine Kiewer Buchhandlung hat über 111.000 Bücher recycelt, Lenin, Dostojewski, Kafka-Übersetzungen – und mit den Einnahmen Kriegsgerät gekauft. Eine bedenkliche Aktion, aber dass die Ukrainer zurzeit mit nichts Russischem zu tun haben wollen, ist nachvollziehbar. Aus ihrer Sicht wäre es konsequent, das Berliner Gorki-Theater im Haus am Festungsgraben temporär umzubenennen, zum Beispiel in „Walerjan-Pidmohylnyj-Bühne“. Der ukrainische Autor fiel dem Stalinismus zum Opfer.Denn hätte Alexei Maximowitsch Peschkow alias Maxim Gorki (russisch: der Bittere) sich vom heutigen russischen Regime distanziert? Seine sozialkritischen Werke dienten als Grundlage für die neue Doktrin des sozialistischen Realismus. Er war der erste „Ingenieur der Seele“. So lautete die Arbeitsplatzbeschreibung sowjetischer Schriftsteller. 2018 pries Wladimir Putin den „überragenden Beitrag Maxim Gorkis zur vaterländischen und weltweiten Kultur“. Der Dichter hat unter Stalin zwar versucht, verfolgte Kollegen zu unterstützen, ließ sich jedoch schon zu Lebzeiten für Propaganda missbrauchen. Er wurde zur Schraube in der Sowjet-Maschine, die den „neuen Menschen“ bauen sollte. Flugzeuge, Schiffe, sogar seine Heimatstadt Nischni Nowgorod erhielten seinen Namen.Nach einem Besuch pries Gorki den Solowki-Gulag als Beispiel für gelingende Umerziehung. Der Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals war ihm Anlass, die Sklavenarbeit der Gefangenen zu rechtfertigen. Es ist unklar, wie „freiwillig“ er jeweils handelte – Gerüchten zufolge drohte Stalin, Gorkis Sohn zu internieren. Auch postum – der Dichter starb 1936 – lebte der Kult um ihn fort, gerade im sozialistischen Bruderland DDR. Während Nischni Nowgorod 1990 wieder seinen vorstalinistischen Namen erhielt, blieb das Berliner Gorki-Theater das Gorki-Theater. Nach Angaben der Betreiber handelt es sich um das einzige Haus im deutschsprachigen Raum, das keinen deutschsprachigen Autor als Paten hat.Der Name Gorki steht für russischen Kulturimperialismus, auch wenn an der Spielstätte spannende Dinge passieren und das R aus der Reihe tanzt. „Ein jegliches hat seine Zeit“, heißt es in Brechts Lieblingsbuch, der Bibel, Töten und Heilen. Jetzt ist nicht die Zeit für kulturbeflissene Ausgewogenheit, sondern für Solidarität. Dem großen bitteren Dichter Maxim Gorki, der als Kind in Armut auch als Schuhverkäufer arbeitete, können wir (wieder) gerecht werden, wenn das Morden in der Ukraine aufhört. Katharina KörtingPlaceholder image-1ContraDass das Café Moskau in Berlin für ein paar Tage in Café Kyiv umbenannt wurde, ist eine solidarische Geste, die ich entschieden begrüße. Man kann den Tausch der Hauptstädte nicht missverstehen. Das Maxim-Gorki-Theater, unweit der Freitag-Redaktion gelegen, trägt aber den Namen eines Künstlers. Für die ukrainische Führung ist der Krieg zwar ein Grund, auch gegen die russische Kunst vorzugehen, das sollte aber weder unterstützt noch gar nachgeahmt werden. Alles, was Kunst ist, gehört der Menschheit und nicht einer Nation, nicht einmal der ukrainischen. So falsch es war, die kürzliche Aufführung der Oper Boris Godunow in Mailand anzugreifen, wie von ukrainischer Seite geschehen, so falsch wäre es, Maxim Gorki für Wladimir Putin verantwortlich zu machen.Die genannte Oper des russischen Komponisten Modest Mussorgski wendet sich gegen den Zaren Godunow und die Inszenierung hat den Bogen zur heutigen russischen Herrschaft gespannt. Ist das nicht ein weiterer Akt der Solidarität mit der Ukraine? Man kann verstehen, dass die angegriffene Ukraine hier wenig Differenzierungsvermögen an den Tag legen kann und mag, aber wir sollten unsere Solidarität mit der gebotenen Umsicht leisen. Was Gorki angeht, so wurde er zwar von Putin instrumentalisiert – als „vaterländischer“ Dichter gepriesen –, doch das war er nicht, er war vielmehr ein marxistischer Dichter, der sich über den Nationalismus erhob. Auch unter Stalin war er instrumentalisiert worden, als angebliches Vorbild für den „sozialistischen Realismus“, dem er gar nicht überall gefolgt war.Nein, während Gorki den Roman Die Mutter geschrieben hat – den Brecht dramatisierte: „Was spricht eigentlich gegen den Kommunismus?“, „Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm“ –, Lenin kannte und Mitglied des ZK der KPdSU war, hat Putin dem Bolschewismus überhaupt und speziell Lenin die Schuld am Zerfall seines fantasierten heiligen Russlands gegeben – er ist der klassische Konterrevolutionär. Es war Lenins Verfassungsidee, nach der die Ukraine das Recht bekam, aus der UdSSR auszutreten. Lenin war in der Tat ein Feind des großrussischen Machtanspruchs, was man von seinem Nachfolger Stalin, den Putin bewundert, nicht sagen kann. Michail Gorbatschow, letzter Generalsekretär der KPdSU, wollte zu Lenin zurückkehren; als er mit seinen ökonomischen Reformen scheiterte, machte die Ukraine von ihrem Austrittsrecht Gebrauch.Putin wurde von Jelzin erkoren, dem ersten russischen Präsidenten nach dem Ende der Sowjetunion, und zu dessen Zeit schon entstand das Kalkül, die Bevölkerung durch „Geschichtspolitik pur“, wie der Historiker Manfred Hildermeier Jelzins Wirken beschreibt, nationalistisch zu indoktrinieren. Es sei, schreibt er, ein „Grundmotiv“ von Jelzins Politik gewesen, „Fakten zu schaffen, um einer Rückkehr zu sowjetischen Verhältnissen ein für alle Mal vorzubeugen“. So machte er die orthodoxe Kirche wieder „zu einer tragenden Säule des neuen Staates“. Putin setzte das bruchlos fort, empfahl sich schon vor seiner ersten Wahl zum Präsidenten Ende 1999 mit dem Programm, Russland habe sich an die eigene Geschichte zu erinnern, statt etwa an „liberalen Werten“ anzuknüpfen. In seiner jüngsten Rede vom 21. Februar sprach er von Versuchen des Westens seit dem 19. Jahrhundert, die „historischen Gebiete, die man heute Ukraine nennt, Russland wegzunehmen“.Einen Dichter wie Maxim Gorki auszugrenzen, würde Putin in die Hände spielen. Man muss sich entscheiden: Wollen wir die östliche Konterrevolution mit der westlichen bekämpfen? Dann können wir Gorkis Namen wegwerfen. Oder erinnern wir uns an Lenins Diagnose, wonach der Kapitalismus zur imperialistischen Konkurrenz und diese notwendig zum Weltkrieg führt? In dem Fall ist es gut, dass wir ein Maxim-Gorki-Theater haben. Michael Jäger