FREITAG: Sind Sie mit den Resultaten des Istanbuler OSZE-Gipfels bezogen auf den Tschetschenien-Konflikt zufrieden?
ILJAS ACHMADOW: Der Druck der westlichen Welt auf Russland bleibt unsere einzige Hoffnung, dass dieser Krieg, der für unser kleines Volk den Genozid bedeutet, beendet wird und Verhandlungen zwischen dem tschetschenischen Präsidenten Maschadow und Boris Jelzin durchgesetzt werden. Die Infrastruktur Tschetscheniens war bereits nach dem Krieg von 1994 bis 1996 völlig zerstört. Der jetzige Krieg, vor allem die pausenlosen Bombardierungen, hinterlassen nur Ruinenfelder. Tausende Menschen flüchten nach Grosny, weil es dort wenigstens Keller gibt, in denen man sich verkriechen kann.
Worin sehen Sie den Unterschied zum ersten Krieg von 1994 bis 1996?
Der jetzige Krieg ist die Antwort Russlands auf die amerikanischen Bombardements in Serbien und kopiert die Strategie der Zerstörung aus der Distanz. Besonders die Boden-Boden- und Boden-Luft-Raketen haben eine verheerende Wirkung und fordern zahlreiche Tote unter der Zivilbevölkerung. Grausam sind auch die Anwendung international geächteter Vakuum- und Splitterbomben und der Beschuss von Flüchtlingen. Im Unterschied zu 1994 bis 1996 sieht sich Tschetschenien einer Informationsblockade ausgesetzt. Es gibt dort keine internationale Presse. Erschreckend ist außerdem - auch hier existiert eine andere Lage als vor vier Jahren - der weitgehende Konsens der russischen Öffentlichkeit mit dem Abschlachten der Tschetschenen.
Das Feindbild vom "Islamischen Terroristen" wurde nicht zuletzt durch die vielen Entführungen genährt, die es in Tschetschenien gab, oder durch die grausame Ermordung von Mitarbeitern des Roten Kreuzes und ausländischer Hilfsprogramme.
Ziel dieser Entführungen waren eben die Destabilisierung Tschetscheniens und eine Blockade ausländischer Kontakte, die für den Wiederaufbau des Landes gebraucht wurden. Der Krieg war 1996 nur scheinbar beendet und wurde mit allen Mitteln als Kalter Krieg weitergeführt. Es ist die Schuld der tschetschenischen Führungseliten, dass sie sich in politischen und religiösen Fragen zerstritten haben, statt mit allen Kräften gemeinsam die Kriminalität zu bekämpfen und eine zivile Ordnung aufzubauen. Es ist schwer, ein Land von freiheitsliebenden Individualisten zu regieren - besonders wenn sich dieses Land in absoluter sozialer Verzweiflung befindet.
Der Westen reagiert erschreckt, wenn die zivile Ordnung als islamische Ordnung bei Einführung der Scharia hergestellt werden soll.
Unsere Moral ist traditionell im Islam verankert. Der Islam ist die einzige Kraft, auf die wir unsere Ordnung aufbauen können.
Wie werten Sie den Einfluss radikal islamischer Bewegungen in Tschetschenien, etwa der sogenannten "Wachhabiten"?
Wir sind Sunniten, uns sind extreme Richtungen des Islam fremd. Die Wachhabiten finden bei der Bevölkerung Tschetscheniens keine Unterstützung. Natürlich ist das Angebot für junge Leute, die nicht wissen, wovon und wofür sie leben sollen, verlockend, wenn ihnen Geld oder Kleidung angeboten wird, und die Idee, dass alle - die Armen und Reichen - vor Allah gleich sind.
Sie sind derzeit auf Europa-Reise. Welche Art der Hilfe erwarten Sie von den westlichen Staaten?
Ich erwarte, dass sie das Ausmaß der humanitären und ökologischen Katastrophe des russischen Krieges in Tschetschenien begreifen und alles tun, um das Morden zu beenden. Die Welt wünscht sich ein stabiles Russland und betont immer wieder die Integrität des russischen Staates und seiner Grenzen, zu denen Tschetschenien völkerrechtlich nicht gehört, weil es nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht in die Russische Föderation eingetreten ist. Es ist unmoralisch, nach zwei furchtbaren Kriegen von den Tschetschenen zu verlangen, russische Staatsbürger zu sein. Aber abgesehen von der Statusfrage Tschetscheniens sollten die Weltmächte sehen, dass Russland weder moralisch, noch politisch, noch ökonomisch und auch nicht militärisch fähig ist, Tschetschenien zu stabilisieren. Nur die westlichen Länder mit ihren Erfahrungen in Bosnien, im Kosovo oder in Georgien wären in der Lage, mit entsprechenden Programmen beim Aufbau ziviler Strukturen zu helfen. Programme zur Verbrechensbekämpfung, zum Aufbau eines wirksamen Polizei- und Strafsystems. Wir suchen die Unterstützung des Westens und meinen, dass der Westen direkte Entwicklungsprogramme mit Tschetschenien durchführen sollte, wenn er an einem stabilen Kaukasus - und einem stabilen Russland interessiert ist.
Das Gespräch führte Ekkehard Maass
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