Kollegen haben wegen des Krieges Russland verlassen, der bekannte Soziologe Grigori Judin ist bis heute geblieben. Er gehört zu den wenigen, die sich trotz eines immer stärkeren Drucks noch trauen, öffentlich eine abweichende Meinung zu vertreten. Dieser Krieg habe ihn tief getroffen, resümiert er. Das sei „eine wahre Katastrophe für Russland. Alles, was ich zuvor getan habe, verlor seinen Sinn“, meint der 40-Jährige. Er beobachte, wie augenblicklich Geschichte umgeschrieben werde. Eine Gruppe aus der offiziellen Politik tue fast so, als habe die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg eine westliche Einheitsfront besiegt. Und jetzt wolle der Westen Rache.
Ansonsten hat sich der Alltag in Russland, vor allem in den größeren Städten, kaum ver
, kaum verändert. Das gilt auch für jene Milieus in der Bevölkerung, die heute von westlichen Medien oft als Scharfmacher dargestellt werden. Russen, die den Krieg mit Beifall bedenken und sich über tote Ukrainer freuen, habe es vor dem 24. Februar 2022 auch schon gegeben, meint der Psychologe Leonid Gozman, nur seien sie nicht besonders aufgefallen. Nachdem er gegen den Einmarsch in der Ukraine öffentlich Stellung bezogen hatte und zweimal verhaftet wurde, ist Gozman vergangenen Herbst emigriert.Zuweilen stellt sich die Frage, weshalb es nicht zu größeren Antikriegsprotesten komme. Gozman glaubt, dass zwei Bedingungen erfüllt sein sollten, damit das möglich sei. Zum einen sollten die Menschen nicht damit rechnen müssen, Repressionen ausgesetzt zu sein, zum anderen bräuchten sie die Aussicht auf Erfolg. Beides sei momentan in Russland nicht gegeben. Aufstände gegen offen diktatorische Verhältnisse seien nach seinem Eindruck überall selten, egal in welchem Land. Das russische Volk habe „kein sklavisches Wesen“, widerspricht er einem Eindruck, der in deutschen Medien verbreitet ist.Führende Politiker in Moskau widmen der Entscheidung über die Lieferung deutscher Kampfpanzer an die Ukraine viel Aufmerksamkeit. Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin zieht den allgegenwärtigen Vergleich zum Zweiten Weltkrieg. Deutsche Panzer bewegten sich „an der Ostfront“, heißt es dann. Eine feindselige Einstellung des russischen Establishments gegenüber der deutschen Regierung ist nach Einschätzung des Soziologen Grigori Judin nicht neu. „Deutschland als Teil des kollektiven Westens wird von Moskau schon seit Langem als Feind wahrgenommen. Da hat das beabsichtigte Verschicken von Panzern in die Ukraine die Situation nicht wesentlich geändert.“Wegen dieser Lieferungen werde sich die breite Bevölkerung nicht enger um Wladimir Putin scharen, glaubt Leonid Gozman. „Sie unterstützen die Macht als solche. Ihnen fehlt in ihrem Leben die Erfahrung, Macht beeinflussen zu können. Sollte es morgen eine Regierung geben, die im Krieg das Gegenteil der jetzigen will, würden sie die ebenso unterstützen“, glaubt der Psychologe. Insofern rechne er nicht damit, dass sich – von der Fraktion der Hardliner einmal abgesehen – die Einstellung beim Gros der Bevölkerung gegenüber den Deutschen wegen der Panzerlieferung ändern könnten.Bleiben zwei Fragen: Werden deutsche Panzer der Ukraine militärisch helfen, und wie groß ist das von diesem Waffen ausgehende Eskalationspotenzial? Der oppositionsnahe russische Militäranalyst Kirill Michailow vertritt in der Onlinezeitung Meduza die Auffassung, die in Aussicht stehenden Panzer seien ein Grund dafür, dass die russische Armee aktuell ihre Offensive bei Bachmut intensiviere. Noch sei dieses Gerät bei den ukrainischen Streitkräften nicht verfügbar. „Wunderwaffen gibt es nicht, und keine Waffe allein kann einen Krieg vollends verändern“, schreibt Kirill Michailow. Um einen spürbaren Effekt bei den Kampfhandlungen zu haben, müssten nach seiner Auffassung wesentlich mehr Panzer als bisher geplant auf den Weg gebracht werden.Natürlich stelle sich sogleich die Frage nach dem damit verbundenen Eskalationspotenzial. Er verstehe nicht, so Michailow, weshalb sie ausgerechnet im Blick auf die Leopard-Panzer gestellt werde, nicht aber beim vorangegangenen umfangreichen Rüstungstransfer von Panzerhaubitzen bis hin zu Schützenpanzern aufgeworfen wurde. Eskalationsrisiken bestünden derzeit immer und überall. Es gebe sie hauptsächlich dann, wenn die russische Staatsmacht die externe Aufrüstung als existenzbedrohend empfinde.Davon geht Michailow erst aus, sollte eine Situation eintreten, in der Streitkräfte der Ukraine auf die Krim zumarschieren. Der symbolische Wert der als eigenes Territorium empfundenen Halbinsel sei in Russland enorm.