Russlands Walesa gesucht

Die Krise auf dem Sprung nach Osten In Moskau bereiten sich Regierung und Opposition auf soziale Einbrüche im Frühjahr vor. Die Weltrezession wirft ihre Schatten voraus.

Der resolute Polizei-Einsatz gegen den von Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow organisierten „Marsch der Nichteinverstandenen“ vor wenigen Tagen in Moskau – er richtete sich gegen 500 verstreute Demonstranten – schien ein Signal dafür zu sein, wie auf Proteste reagiert werden könnte, die sich an sozialen Unterlassungen der Regierung entzünden. Und die sind nicht auszuschließen, sollte die Finanzkrise staatlichen Leistungswillen spürbar aushöhlen. Die Regierung Putin hat in dieser Hinsicht durchaus Grund zur Sorge. Nach einer vor kurzem veröffentlichten Umfrage des FOM-Meinungsforschungsinstituts, wächst die Unzufriedenheit in der Provinz. 39 Prozent der Russen haben beschweren sich über fehlende Krisenkompetenz der örtlichen Verwaltungen.

„Wenn sich die wirtschaftliche Situation im Frühjahr 2009 zuspitzt, dann wird es in der Bevölkerung eine große Nachfrage nach oppositionellen Parteien und Bewegungen geben“, meint Pawel Palaschtschenko, Politologe bei der Gorbatschow-Stiftung, Nicht nur Solidarnost, auch die KPRF und die noch zersplitterten Sozialdemokraten hätten dann eine Chance. „Ich schließe auch nicht aus, dass die Macht eine „verantwortungsvolle Opposition“ kultiviert.“ Alles hänge davon ab, ob die neuen Bewegungen und Parteien, „eindrucksvolle Führer und neue Gesichter zu präsentieren“. Man könne nicht ausschließen, dass es in Russland ein noch unbekannter „Lech Walesa“ auftaucht. Wer sollte das sein? Auf diese Frage freilich hüllt sich Palaschtschenko in Schweigen und reflektiert damit natürlich auch, dass die russische Opposition nach wie vor klein und in viele linke oder liberale Gruppen, Zirkel und Sekten zersplittert bleibt. Daran kann auch die von Ex-Schachweltmeister Kasparow und dem ehemaligen Vizepremier Boris Nemzow am Wochenende gegründete Bewegung Solidarnost nicht viel ändern. Wichtige Personen aus dem liberalen Lager, wie die Führung der sozialliberalen Partei Jabloko und Ex-Ministerpräsident Michail Kasjanow mit seiner Volksdemokratischen Union, beteiligen sich nicht. Auch Gewerkschafter suchte man bei der Gründung von Solidarnost vergeblich. Die neue Bewegung krankt erst einmal daran, dass der vorgelegte Programmentwurf „300 Schritte in die Zukunft“ auf dem Gründungskongress wegen zahlreicher Änderungsanträge nicht verabschiedet wurde. Und auch im Augenblick noch völlig offen, wann das nachgeholt wird.

Kasparow täusche die Öffentlichkeit, meint der unabhängige, nichtkommunistische Linke Boris Kagarlitzki. „In den letzten Jahren haben die Liberalen mit den gleichen Leuten vier Organisationen gegründet, Das andere Russland, Vereinigte Bürgerfront, Nationale Versammlung und jetzt Solidarnost.“ Bei einer Zuspitzung der Wirtschaftskrise hätten die existierenden Oppositionsparteien keine Chance, am allerwenigsten Solidarnost, meint Kagarlitzki. Die Linke existiere in Russland fast nicht, so der Soziologe. Bei der Zuspitzung der Wirtschaftskrise rechnet Kagarlitzki mit spontanen Protesten der Bevölkerung. Bei dem allseits erwarteten Aufruhr würden sich dann ganz neue Oppositionsparteien bilden. Wie gering die Bedeutung der existierenden Parteien ist, habe das Beispiel Wladiwostok gezeigt. Dort hatten sich Anfang der Woche Tausende von Menschen aus Protest gegen Erhöhung der Import-Zölle für West-Autos die Straßen blockiert. „Die einzige Partei, welche sich zu den Demonstranten wagte, waren Schirinowskis Liberaldemokraten und die wurden mit Steinen beworfen.“

Auch Lew Gudkow, der Direktor des Lewada-Meinungsforschungsinstituts, äußert sich zu den Zukunftsperspektiven von Solidarnost skeptisch. „Ich glaube, dass diese Gruppierung in der nächsten Zeit auch nur auf ein begrenztes Publikum hoffen kann. Alles hängt davon ab, inwiefern sie Zugang zum Fernsehen und zu den Zeitungen Zugang bekommen und welches Programm sie haben. Wenn sie sich nur um die Interessen kleiner liberalen Gruppen kümmern, werden sie nur fünf Prozent der Bevölkerung unterstützen – oder weniger.“ Die Entwicklung einer der neuen Oppositionspartei werde im wesentlichen durch zwei Faktoren behindert - so Gudkow – das traditionell passive Verhalten der Bevölkerung und die negative Erfahrung mit der Wirtschaftspolitik der Liberalen in den neunziger Jahren. Eine massive staatlich Propaganda-Kampagne - die Liberalen seien die Interessenvertreter des ausländischen Kapitals – hätte diese negative Haltung in der Bevölkerung noch verstärkt. „Solidarnost muss sehr viel tun, um das Vertrauen der Menschen zurück zu gewinnen.“

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