Sachsen-Anhalt

A–Z Am 6. Juni wird gewählt, im Land von Moses Mendelssohn und Händel, mit seiner Kunst, seinem Wein ... Wie wird es ausgehen? Das Lexikon
Ausgabe 21/2021

A

Astronomie Wie sich die Frühmenschen mit den Gestirnen befassten, ist im Museum für Vorgeschichte Halle zu erfahren: frappierend die Dichte der Funde prähistorischer Astronomie. Es empfiehlt sich aber ein Besuch der jeweiligen Orte. In Pömmelte bei Magdeburg etwa wurde ein Stonehenge aus Holz rekonstruiert. Vor 4.000 Jahren huldigten Menschen hier dem Himmelsgeschehen. Im äußersten Süden des Bundeslandes liegt Nebra, wo man die gleichnamige Himmelsscheibe fand. Der Bronzediskus ist die älteste bekannte Himmelsdarstellung der Welt. Wie eine Sonnenbarke schwebt das Besucherzentrum über lieblicher Landschaft, das leider nur eine Kopie der Scheibe zeigt. Lassen Sie sich die leckeren Walderdbeeren am Weg zum Aussichtsturm nicht entgehen! Um die Ecke liegt in Goseck das älteste Sonnenobservatorium Europas. Die Menschen suchten hier schon vor 7.000 Jahren nach Orientierung. So wie heute Touristen: Die Ausschilderung zu allen Orten ist mies. Tobias Prüwer

D

Der, die, das In Kalbe an der Milde, Sachsen-Anhalt, habe ich die Armeezeit verbracht. Wenn es Ausgang gab, traf ich Marusja. Sie war reizend, aber sie hatte dieses dort nicht ganz unübliche Sprachproblem. Wenn sie sagen wollte: Ich möchte, dass wir uns sehen, sagte sie: Ich möchte, damit wir uns sehen. Wenn wir uns eine Weile nicht trafen, weil gerade Manöver war, sagte sie: So geht das nicht weiter, das sag ich dich ganz klar! Ich hatte Marusjas Sprachkabriolen fast vergessen, bis ich bei einem Konzert des Liedermachers Wenzel war, der aus der Gegend stammt. Die Sachsen-Anhaltiner, bemerkte Wenzel zwischen zwei Liedern, sind das einzige Volk, das in der Lage ist, nahtlos in einem Satz DER, DIE, DAS unterzubringen: Weißte doch, der Typ, der die das Kind gemacht hat. Für Momente war ich wieder an der Milde. Das sag ich dich! Toni Heinemann

G

Giebichenstein Im Osten sind Kunsthochschulen dünn gesät. Thüringen, Brandenburg und Meck-Pomm haben gar keine. In Sachsen-Anhalt gibt es immerhin eine, die „Burg“ mit den Fachbereichen Kunst und Design. Die Kunstschule, an der ich unterrichte, ist vier Jahre älter als das Bauhaus und leider viel weniger berühmt. Dafür existiert sie immer noch. Und seit nun 106 Jahren wird emsig an ihr weitergebaut. Zum idyllischen Burghof mit Taubenturm und Rosengarten kamen über die Jahrzehnte ostmoderne Typenbauten, ein postmoderner „Goldbau“ und eine preisgekrönte Bibliothek. Jetzt ist ein lange geplanter Neubau für den Fachbereich Kunst ausgeschrieben. Jede neue Regierung in Magdeburg hält sich also eine Kunsthochschule als kostspielige Orchidee im Landesgarten. Auf der Burg Giebichenstein in Halle – im Elfenbeinturm der Kunst, wie manche sagen – beobachtet man die Wahlen besonders aufmerksam. Welche Auswirkungen werden sie auf die Hochschulpolitik, auf die Budgets haben? So groß ihre Sorgen auch sind, die meisten Burg-Leute wählen nicht in Sachsen-Anhalt, sie wohnen in Berlin oder Köln. Michael Suckow

H

Halle Wenn nicht Hauptstadt, dann Kunsthauptstadt. In der Moritzburg ist das sachsen-anhaltinische Landeskunstmuseum untergebracht. Man kann dort etwa Lyonel Feiningers Auseinandersetzung mit Halleschen Stadtmotiven bewundern, findet auch Werke von DDR-Malern und sogar etwas NS-Kunst. Ein entsetzter Halbwüchsiger trommelt in brennender Nacht um Hilfe: Ob er wohl ahnt, wie dumm ihn die strahlenden Umzüge der HJ-Jugend gemacht haben? Zurzeit ist das Museum geschlossen, und auch die Händel-Festspiele gibt es nur digital. Auf sie kommt die Krimiautorin Donna Leon schon in ihrem Erstling Venezianisches Finale (1992) zu sprechen, bis 2019 war sie sicher jedes Jahr anwesend. Michael Jäger

K

Katharina die Große Erst 14 war sie, als sie dem russischen Thronfolger, Großfürst Peter Fjodorowitsch und späteren Kaiser Peter III., versprochen wurde. Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst schickte sich drein, lernte Russisch, um am Hof zu intrigieren. Sie änderte ihren Namen in Jekaterina Alexejewna und trat zum orthodoxen Glauben über. Intelligent wie sie war, brachte sie es zur Zarin, nachdem sie ihren Mann zum Abdanken gezwungen hatte – und wird bis heute verehrt, weil sie innen- und außenpolitisch Russlands Macht stärkte. Wie man sieht, gelungene deutsch-russische Beziehungen haben tiefe Wurzeln. Irmtraud Gutschke

M

Magdeburg Mit dem 1. FC Magdeburg verbindet mich eine Liebe auf sachsen-anhaltinisch. Man ist schlecht gelaunt, weil man zu früh aufstehen musste ( Wecker), und das Herz liegt nicht auf der Zunge, aber man hält zusammen. Der Verein hat ein Kinderlied als Hymne, das bei mir schon als Schülerin eine Peinlichkeitsgänsehaut erzeugte, „denn ich bin, ich bin, ein Magdeburger Kind“. Von mittelalten Männern mit Biergesichtern im Stadion gesungen, ginge es als Thema einer Bachelorarbeit in Ethnologie durch. Fans der Mannschaft können sich über den Aufstieg in die 3. Liga genauso freuen wie über den Europapokal, den sie 1974 als krasse Außenseiterin nach Hause holte. Jedes Wochenende suche ich den 1. FCM in der Tabelle. In der diesjährigen Saison ohne Zuschauer*innen ist Berg-und-Tal-Bahn angesagt: Bis November 2020 kassierte die Mannschaft sechs Niederlagen in acht Spielen, danach blieb sie elf Spiele ungeschlagen. Annett Gröschner

P

Prominenz Sie alle haben ihre Wurzeln in Sachsen-Anhalt, genauer gesagt in Dessau. Moses Mendelssohn (1729 – 1786), der große Philosoph jüdischer Aufklärung, ist in Dessau geboren und verbrachte prägende Jahre dort. Thomas Kretschmann, 1962 geboren, war in der DDR Leistungsschwimmer und kam auf Umwegen zur Schauspielerei. Auch er stammt aus Dessau. Seitdem er durch Roman Polańskis Film Der Pianist sehr bekannt geworden ist, ist er in Hollywood gut beschäftigt. Kurt Weill (1900 – 1950), ein weiterer „Sohn“ der Stadt, wurde schon 1933 aus Nazi-Deutschland vertrieben. Sein dramatischer Lebensweg führte von Dessau nach Hollywood. 1997 wurde in seiner Geburtsstadt ein Denkmal für ihn enthüllt. „Das Wandern ist des Müllers Lust“, die berühmte Verszeile des frühen Dessauer Dichters Wilhelm Müller (1794 – 1827), eröffnet den Zyklus Die Schöne Müllerin, den Franz Schubert vertonte. Aber Müller blieb bodenständig und beschloss sein Leben in seiner Geburtsstadt.Magda Geisler

R

Reben Entlang der Flusstäler von Saale und Unstrut findet man das nördlichste Weingebiet Europas. Um Freyburg und Naumburg prägen Weinterrassen eine tausendjährige Kulturlandschaft. Nur dem Enthusiasmus einzelner Freizeitwinzer und der Verstaatlichung nach 1960 ist es zu verdanken, dass die Weinkultur hier überlebte. Zu 75 Prozent wird Weißwein angebaut, in einer Sortenvielfalt wie selten in Deutschland. Das ist Folge des Winters 1986/87, damals erfror die Hälfte der Reben und musste neu aufgestockt werden. Das Vorurteil, von hier käme eher saurer Tropfen, stammt aus der Zeit, als man Wein in Ost wie West gern lieblich trank. Saale-Unstrut gilt heute als „Wundertüte“: Die Winzer*innen sind jung und experimentierfreudig. Jörn Kabisch

S

Schulpforta Ach, Schulpforta: Zisterzienserkloster, dessen Mönche das ganze Saaletal in eine weinselige Kulturlandschaft (Reben) verwandelten. Sächsisch-reformatorisches Bildungsprojekt, dann preußischer Schulstaat, der Nietzsche und Fichte prägte. Später NAPOLA, EOS mit westdeutscher Gegengründung, nun Landesinternat mit Eliteambitionen.

Für mich, Nachwendegeneration, um die Jahrtausendwende: ein maximal verdichteter intellektueller Freiraum kreativer Unangepasster inmitten der ostdeutschen Weltkulturerbeprovinz. Im pubertären Emotionsgedusel wollten wir im Park, Wald oder am Saaleufer Teil einer Jugendbewegung sein. Ein solcher Passageritenraum ist flüchtig. Die über die ganze Welt enträumlichte Pfortensergemeinschaft bleibt fürs Leben. Stephan Ehrig

V

Volkspark Wahlkampf in Halle kann gefährlich sein. Zehn Arbeiter starben durch Polizeikugeln, als Ernst Thälmann 1925 im großen Saal des Hauses Volkspark Halle sprach. Einer davon, Fritz Weineck, Hornist im hier gegründeten Rotfrontkämpferbund, wurde als „Kleiner Trompeter“ zur Legende. Der Jugendstilpalast, von Arbeitergroschen bezahlt, 1907 eröffnet, selbstbewusst einer protzigen Bankiersvilla gegenübergestellt, war ein Hotspot von USPD und KPD – und 1918 revolutionäres Hauptquartier. Vor den Märzwahlen 1990 versammelten sich hier die wendewilligen Bürger. Danach war Stille, bis das Burg-Volk (Giebichenstein) den Park mit Ausstellungen, Mode und After-Show-Partys belebte.Bald wieder. Michael Suckow

W

Wecker Wer auf dem Weg zwischen Berlin und Westdeutschand unterwegs ist, kennt Sachsen-Anhalt vor allem als Durchfahrtsland. Mir sind die Autobahn-Schilder an der Landesgrenze in Erinnerung: „Willkommen im Land der Frühaufsteher“. Seit 2005 warb das Land Sachsen-Anhalt mit diesem Slogan. Eine Forsa-Umfrage hatte ermittelt, dass die Menschen dort unter der Woche durchschnittlich um 6.39 Uhr aufstehen. In Sachsen-Anhalt klingelt der Wecker also neun Minuten früher als im Bundesdurchschnitt. Das hat vor allen Dingen mit den vielen Pendlern zu tun. Auf dem Land, abseits von Halle, Magdeburg oder Stendal, gibt es nicht genügend Jobs. Und je nach Wohnort ist es aus Sachsen-Anhalt nicht sehr weit bis Berlin, Niedersachsen, Hamburg, Sachsen oder Thüringen. Daher das frühe Weckerklingeln um 6 Uhr 39 – eine wahrlich unchristliche Uhrzeit! Seit 2014 hat das Bundesland ein neues Motto: „Sachsen-Anhalt: Ursprungsland der Reformation“.Dieser Lutherkult nervt die Sachsen-Anhaltiner selbst. Ben Mendelson

Z

Zuckerrübe Die Magdeburger Börde verdankt der „Königin der Feldfrüchte“ ihren wirtschaftlichen Aufstieg im 19. Jahrhundert. Durch politische Förderung gelang es Preußen, den Zucker aus Rüben zum deutschen Exportgut Nr. 1 während der Kaiserzeit zu machen, noch weit vor Kruppstahl. Wirtschaftlich war Zucker aus Zuckerrohr natürlich billiger, aber knallharte Zollvorschriften schützten die einheimischen Bauern. Die westdeutsche Zuckerindustrie musste nach 1945 praktisch neu aufgebaut werden, nach 1990 teilte sie die ostdeutsche Zuckerindustrie unter sich auf. Seitdem geht es bergab mit der Zuckerrübe. Der Raps steht heute ganz vorn. Die Firma Cargill hat in manchen Gegenden auf Jahre die Ernten aufgekauft. Im Zuckerdorf Klein Wanzleben gibt es jedoch jedes Jahr ein Zuckerfest, auf dem die Zuckerkönigin gekrönt wird. Egbert Pietsch

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