In dem Prosatext Die kleinen Plätze, der in der spanischen Zeitung El Paíz im Oktober 1998 erschienen ist, polarisiert Antonio Tabucchi große und kleine Plätze, auf denen mehr oder weniger große Persönlichkeiten ihre Geschichte eingeschrieben haben, sei es mit Soldaten, Pferden, Waffen, Tribunalen, Autodafés - Zeugnis davon geben nicht zuletzt die großen historischen Gemälde in den bekannten Museen der Metropolen - sei es mit Bleistift, Federhalter oder Schreibmaschine als einer eher melancholisch stillen Form. Natürlich fühlt sich der Autor des »kleinen Gatsby« den versteckten, abgeschiedenen kleinen Plätzen zugeneigt, auf denen anonym und ohne Denkmal die Spuren der Vergangenheit bewahrt werden als lebendige Form einer
lebendige Form einer Erinnerung, als Treffpunkt auch, wo Tod und Identität sich zeigen und verflüchtigen können.So ein Platz gibt auch den Titel für Antonio Tabucchis ersten Roman, der vor 25 Jahren geschrieben nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Piazza d'Italia heißt der Platz, ein imaginäres Zentrum eines erfundenen Ortes, dessen Name Borgo eher ironisch Schutz und Sicherheit signalisiert. Der Name des Platzes verweist stellvertretend auf die Geschichte eines ganzen Landes, mit dessen Stiefelform auch Generationen der Familie des Hauptakteurs Garibaldo immer wieder kollidieren. Ein Leitmotiv ist die Verletzung, Verstümmelung und Amputation der Füße der Protagonisten, das ironisch den Fortgang der Geschichte, manchmal auch slapstickartig den Nonkonformismus der scheinbar kleinen Helden illustriert.Über drei Generationen bis hin in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges zeichnet Tabucchi holzschnittartig auf, wie fremde und eigene Geschichte, wie Mythos und Wirklichkeit als rotes labyrinthisches Knäuel das Alltagsleben der Figuren steuert, wie Terror und Melancholie, Widerstand und Repression dem Ort und seinen Akteuren ihre Farben geben und so als Spuren sichtbar bleiben an dem kleinen Platz, der auch ein Roman ist. Natürlich ist die Verwandlung der blutigen Historie in eine Mischung aus freundlicher Farce und engagiertem Volksstück eine nicht unbeträchtliche Gratwanderung. Doch gelingt die erzählerische Wiederbelebung dem jungen Tabucchi gerade dort, wo der Zeitabstand der Geschichte zur Gegenwart größer ist oder wo die mit viel Sympathie und Eigensinn ausgestatteten Figuren als Brennpunkt gesellschaftlicher und machtpolitischer Prozesse auftreten. Schwieriger wird es da, wo das erzählerische Protokoll von Massenvernichtungen wie des deutschen SS-Terrors zur Zeit der Mussolini-Diktatur keine geeignete Form findet.Die rückwärtsgewandte Perspektive des durch seine Protagonisten vertretenen Erzählers zeigt sich schon zu Beginn des Romans, dessen drei Teile als Akte, wie im klassischen Drama, bezeichnet mit größter Selbstverständlichkeit durch einen Epilog in Gang gesetzt werden, der die Ermordung Garibaldos auf der Piazza in rätselhafter Verkürzung als Vorspann und Schlußpunkt zeigt.Das Spiel mit der Verwirrung der erzählten Zeit wird ergänzt durch die anarchische Namensgebung der Akteure, die im Verlauf der Geschichte immer wieder Garibaldo heißen (können). Macondo, ein anderer imaginärer und realer Ort der Weltliteratur, liegt ständig in Rufweite der Piazza d'Italia, wo in der obsessiven Wiederkehr des gleichen Namens über einhundert Jahre Einsamkeit hinaus fundamentale Zweifel an Kultur und Geschichte, Mythos und Moderne formulierbar, aber auch die Wirklichkeit des Romans als Gattung infragegestellt werden.Wie bei Gabriel García Márquez dient die Verstrickung des Lesers in das unüberschaubare, aber höchst vitale Labyrinth der Geschichte auch in Tabucchis Erstling zu immer wieder neuen Irritationen, die in den zyklisch und chaotisch montierten Episoden Momente der Gegenwart öffnen und aufscheinen lassen, auch wenn diese fast einhundert Jahre zurückliegen kann. Das Labyrinth der Homonyme potenziert sich durch Zwillinge und Doppelgänger, die das Spiel Tabucchis mit Fiktion und Geschichte - ein zentrales Thema in seinem Oeuvre - mit Querverweisen und Rückschlägen in Bewegung hält. »Lange Netze zur Ablenkung« heißt programmatisch eine Episode des Romans, eine andere »Das Übel der Zeit«.Hier treffen wir auch auf einen der vielen Doppelgänger Tabucchis, der den Namen Volturno trägt und gemeinsam mit dem Namen seines Zwillingsbruders Quarto auf Anfang und Ende von Garibaldis siegreichen Zug der Tausend von 1860 anspielt. Volturno leidet an merkwürdigen Krankheiten. Unvermittelt antwortet er auf eine ihm am Vortag gestellte Frage, er hat die Gabe der Antizipation, die sich ihm aber als Erinnerung zeigt, und er erlebt ein und dieselbe Enttäuschung zweimal.Ein anderes alter ego ist der periodisch auf der Piazza agierende Puppenspieler, dessen Vorführungen für die Dorfbewohner Unterhaltung und Widerstand zugleich bedeuten und auch einen Spiegel für den Roman abgeben. Aber auch das als Theater oder Kino geplante Provisorium Splendor(e), zu dessen Eröffnung mal eine tragische Farce, mal ein Film geplant ist, verkörpert den kleinen Platz des Autors.Die Spuren des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa durchziehen als archimedischer Punkt Leben und Schreiben des Antonio Tabucchi, der portugiesische Sprache und Literatur an der Universität Siena lehrt, Leiter des italienischen Kulturinstituts in Lissabon gewesen und Herausgeber der italienischen Werkausgabe Pessoas ist. Fast alle Prosaarbeiten Tabucchis umkreisen diesen Punkt, der perspektiv- und horizontstifend zugleich in ständiger Bewegung bleibt, wie es auch der Aufspaltung des portugiesischen Dichters in eine Vielzahl dichtender Heteronyme entspricht, deren eigenständige Werke Pessoa nur durch stellvertretende Federführung begünstigt. Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa ist ein federleichtes Kammerspiel, in dem die großen Themen Literatur, Leben, Liebe, Tod eher beiläufig anklingen. Wie Sokrates kurz vor seinem selbstgewählten Ende seine Freunde sich zur Begleitung beigesellt, versammelt der sterbende Dichter noch einmal seine Heteronyme an seinem Sterbebett. Die Kapitel von Tabucchis Abschiedstext tragen als Überschrift lediglich die nackten Daten vom 28. bis zum 30. November 1935 und bilden so den scheinbar zeitlich genauen Rahmen für die letzte Reise eines Dichters.Die Vorbereitung auf den Tod beginnt für Tabucchis Pessoa mit dem alltäglichen Ziel, sich vor dem Krankenhausaufenthalt in aller Ruhe rasieren zu lassen und endet mit dem letzten Augenöffnen des Dichters, nachdem das philosophierende Heteronym António Mora die von Pessoa gewünschte Brille ihm noch einmal aufgesetzt hat. Lauter letzte Gespräche, leise, human und ohne Eile, öffnen erneut den Blick auf das poetische Universum von Fernando Pessoa und Antonio Tabucchi. Es ist ein langsamer Abschied, der sich der eher beiläufig geäußerten Maxime Pessoas verpflichtet weiß, der, als sein von ihm geachteter Meister, Alberto Cairo, ihm am Sterbebett von den Schwierigkeiten, ihm ein Geheimnis anzuvertrauen, spricht, rät - bevor beide interstellare Entfernungen trennen werden - »Sagen Sie es mir einfach so ... wie man etwas ganz Gewöhnliches sagt.«Selten zeigt sich Schreiben als Existenzform, die von der Vielfalt des eigenen Ich bewegt wird, so unangestrengt und klar gefaßt wie in dem kleinen Abschiedsgruß, der als carpe diem nicht von ungefähr durch einige Gerichte der traditionellen portugiesischen Küche gewürzt ist.Antonio Tabucchi, Piazza d'Italia. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998, 190 Seiten, 34,- DM Antonio Tabucchi, Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa. Carl Hanser-Verlag, München 1998, 67 Seiten, 20,- DM
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