Peter aka Pete Doherty, Elizabeth Grant aka Lana Del Rey
Illustration: Jonas Hasselmann für der Freitag; Material: Andy Sheppard/Redferns/Getty Images, Future Image/Imago
Was ist Pop? Pop ist eine Konstruktion zur Verbindung widersprüchlicher ästhetischer, sozialer und semantischer Praxen. Äh, was? Das ist das Grundparadox von Pop: Je einfacher ein Pop-Phänomen daherkommt, desto schwieriger ist es zu entschlüsseln. Deswegen kann man die Einstürzenden Neubauten vergleichsweise einfach erklären (als Kunstprojekt), Helene Fischer relativ schwer (als Kunstprodukt).
Bücher wie das von Jens Balzer, die eine klare Perspektive aufweisen, sind daher so notwendig. Gäbe es niemanden, der so intelligent wie begeisterungsfähig über Pop schreibt, wäre man ziemlich verloren im Meer der Klänge und der Bilder. Um beim Schreiben über Pop der Falle zwischen nerdiger Fan-Klugscheißerei und hyperintellekt
rintellektueller Überfliegerei zu entgehen, gibt es ein paar Taktiken: radikaler Subjektivismus, hemmungslose Eklektik, die Anwendung wissenschaftlicher Methoden wie der Soziologie und schließlich die Technik einer anmaßenden Selbstermächtigung – Pop-Schreiben als Verlängerung von Pop-Performances.Jens Balzer, der als Musikredakteur bei der Berliner Zeitung arbeitet, wählt eine sehr eigene Mischung, und weil er wirklich verdammt gut schreiben kann, garantiert das schon mal eines: ein großes Lesevergnügen. Seine Beschreibung von Pop Acts, von den zerbrechenden Inszenierungen heroischer weißer männlicher Heterosexualität wie bei Pete Doherty über die bärtigen Freak-Folker, den entschleunigten Lärm von Sunn 0))), die Akzelerationsmusik von FKA twigs und die „Identitären“ des Rock wie Freiwild bis hin zu Helene Fischer, die es schafft, die unterschiedlichsten Erscheinungen der Popmusik im Format des deutschen Schlagers unterzubringen, ohne sich von Brechung oder Ironie irritieren zu lassen – sie alle nähren sich nicht nur vom genauen Hinsehen und Hinhören, sondern auch von Konzertbesuchen und Interviews. Man ist mit dem Autor unterwegs in der Szene, und man ist es gern, selbst wenn es zu nervenden Auftritten wie bei Sting oder Rufus Wainwright geht.Stirb und werdeMan kann Pop als Kunst beschreiben, als soziales Schmiermittel, als Ersatzreligion, als industrielle Verblendung, als Ausdruck politischer Ökonomie, als Subversionsmedium, als Waffe im Klassenkampf, als Technik der Persönlichkeitsbildung, als Meer der Banalität mit wunderbaren Inseln der Bedeutung. Aber all das hat eine direkte Beziehung zum wirklichen Leben der Leute, die Radio hören, Youtube-Clips ansehen oder in die Konzerte gehen. Pop ist die Antwort auf das, was mit dem Subjekt unter den jeweiligen Bedingungen passiert. Balzer beschreibt, was im Echoraum des Pop mit dem Subjekt im digitalen Neoliberalismus geschieht, wie es zerbricht und wieder zusammengesetzt wird, wie Musik wiederum eingebaut wird ins Subjekt, das mit den Widersprüchen seiner Bedingungen fertigwerden muss, mit dem gender trouble, der Frage nach Macht und Unterwerfung, nach Autonomie und Selbstbestimmung.Und dann bekommen plötzlich auch die seltsamen Dinge, etwa die performative Arbeitsverweigerung einer Lana Del Rey, die endlose Abschiedstournee von Unheilig oder die Eigenschaftslosigkeit von Helene Fischer einen Sinn. Freilich beschränkt sich Balzer auf das, was im Zeitraum seines Panoramas als aktuell gelten darf – es geht grob gesagt um die letzten zehn Jahre –, also auf Acts, die in irgendeiner Weise neue Lösungen für neue Widersprüche anbieten. Dabei muss ein wenig aus dem Blick geraten, dass es immer auch noch einen Pop-Traditionalismus gibt. Was in den Mainstreamzyklen „nicht mehr geht“, wandert eben in Nischen ab. „Dezentrierung und Verflüssigung“, die Balzer als wesentlich für den Pop der Gegenwart ausmacht, erzeugen wohl auch ihr genaues Gegenteil: eine Sehnsucht nach dem Immergleichen. Was Balzer also beschreibt, und zwar auf eine Weise, durch die einem, wie man so sagt, die Schuppen von den Augen fallen, ist der agierende Teil des Pop. Da ist, könnte man zusammenfassen, offenbar ein großes „Stirb und werde“ im Gang.Balzer interessieren vor allem jene Künstler, die ihre Widersprüche und Niederlagen bearbeiten. Was er von Holly Herndon schreibt, gilt in anderen Kontexten auch für viele gegenwärtige Pop-Stars: „Hier können wir in reich schillernden Farben verfolgen, wie sich das Ich in unserer restlos digitalisierten Kultur verliert und immer wieder neu entsteht.“Zweifellos kann dieses neue Sampeln des Subjekts, das genussvolle Ausleben der Selbstwidersprüchlichkeit, auch unangenehm werden, etwa bei den Rekonstruktionen von Männlichkeit bei Bushido oder dem männerbündischen Identitätsrock von Freiwild. Die Pop-Konstruktion des Subjekts, wie die Konstruktion des Pop-Subjekts, ist ein marktförmiger Prozess; für nahezu jede und jeden ist etwas im Angebot. Aber selbst bei Helene Fischer gilt als Wesen der Inszenierung eine Flüchtigkeit, wird der Megaeffekt des Pop unseres Jahrhunderts eingesetzt, der Bruch in der Perfektion, die „kleine Geste der desillusionierenden Entkostümierung“. Pop als Ganzes muss reflektieren, dass er so allgegenwärtig ist wie nie zuvor, zugleich aber nicht mehr so „die Welt bewegen“ kann.Wir wissen, dass die Pop-Revolution ein Traum geblieben ist. Was hoffentlich auch für die Pop-Reaktion gilt, die von der Volksmusik über den „Rechtsrock“ bis zum Erfolg der bekannten Band aus Südtirol reicht, von der Balzer schreibt: „Wenn man sich das länger als zwei Stunden anhören muss, wirken die weinerlich-aggressiven Texte von Freiwild und ihre stumpfe Musik allerdings ziemlich lähmend. Gerade deswegen sind sie aber so interessant: weil sie in der massenbegeisternden Musik wieder ein längst überwunden geglaubtes, identitäres Männlichkeitsbild verankert und dieses dabei vollständig entsexualisiert haben. Es geht hier nicht um Erotik und Frauen, sondern um Hass und Identität.“Dies ist ein weiteres Merkmal von Balzers Buch: Es macht auf einen Zusammenhang zwischen Musik und Politik aufmerksam, der über Texte und Interviews weit hinausgeht. Wenn Pop dabei hilft, das digitalkapitalistisch zerbrochene Subjekt wieder zusammenzufügen, mit unterschiedlichen Naht- und Rissstellen, unterschiedlichen Anteilen von Lust und Schmerz, Bewusstsein und Dröhnung, dann gilt das Gleiche eben auch für ein politisches Subjekt. Und so erklärt sich auch der Untertitel des Buchs: „ein Panorama der Gegenwart“. Es geht nicht nur um einen panoramatischen Blick auf das Pop-Geschehen. Es zeigt auch, wie Pop die Gegenwart panoramatisch sieht. Man muss sich nur, vielleicht unter der kundigen Führung eines Autors wie Jens Balzer, auf diesen Blick einlassen.Placeholder infobox-1Placeholder link-1
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