Sand im Getriebe

Kommentar Nachlassender Reformeifer in der Türkei

Der Türke an sich schlägt seine Frau, liebt seine Heimat und riecht manchmal auch nach Knoblauch. So das kleinbürgerliche Vorurteil. Eine intellektuelle Etage darüber sind die xenophoben Klischees schon etwas einfallsreicher. So sieht Angela Merkel die EU von neuen Beitrittskandidaten meistens nur dann überfordert, wenn es um die Türkei geht, ihre Parteigenossen fabulieren von der "europäischen Identität" sowie den "christlichen Wurzeln" der EU, und der ehemalige Verfassungsrichter Bockenförde schlussfolgert in der FAZ mit beneidenswerter Scharfsinnigkeit, die Türkei sei eine islamische Nation, der Islam an sich sei unaufgeklärt und die Türkei somit nicht geeignet für die EU. Die jüngsten Fernsehbilder von prügelnden türkischen Polizisten waren da natürlich Wasser auf die Mühlen derer, die eine EU-Mitgliedschaft Ankaras um jeden Preis verhindern wollen.

Doch ungeachtet aller Instrumentalisierungsversuche muss derzeit auch der glühendste Beitrittsbefürworter eingestehen, dass die Reformbemühungen in der Türkei an Schwung verloren haben. Abgesehen von der noch immer ausstehenden Änderung des Versammlungsrechts oder der Strafprozessordnung, muss sich die Regierung von Premierminister Erdogan auch die Frage gefallen lassen, wie es mit der innergesellschaftlichen Akzeptanz des von ihr initiierten Wandels bestellt ist. Glaubt man etwa der türkischen Schriftstellerin Buket Uzuner, so sind viele der Reformen - beispielsweise die Abschaffung der Todesstrafe und das Bekenntnis zur Meinungsfreiheit - in den Köpfen der Menschen noch nicht angekommen. Auch seitens der EU gibt es Defizite, die überwunden werden müssen, damit die Aufnahme eines Mitgliedes wie der Türkei die Strukturen der Union nicht überfordert. Nach wie vor erschwert das Trägheitsmoment bei internen Verfahren die politische Handlungsfähigkeit, erst Recht seit der letzten Erweiterungsrunde vom Mai 2004. Nicht nur die Türkei muss "ihre Hausaufgaben machen", wie es Martin Schulz, Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, jüngst formulierte.

Auf beiden Seiten ist noch einiges zu tun. Tayyip Erdogan ist dabei jedoch in einer ungleich schwierigeren Lage. Zu Hause wegen der vielen Konzessionen an Brüssel von reformunwilligen Kräften auch in den eigenen Reihen unter Druck gesetzt, muss er nun aufpassen nicht als williger Erfüllungsgehilfe der EU-Europäer dazustehen. Ein halbes Dutzend Parlamentarier hat die Parlamentsfraktion seiner AKP bereits verlassen, und bis zum Beginn der Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober stehen noch einige unpopuläre Entscheidungen an. Allen voran die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls zur Zollunion und damit die indirekte Anerkennung Zyperns. Erdogan werden dabei weitere Konflikte mit reformfeindlichen Kräften nicht erspart bleiben - die derzeitige "Phase der Reorganisation" sollte daher nicht zu lang dauern.


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