Es ist kühl in England. Kurz vor Beginn der Schulferien sieht es fast so aus, als bereite der Great British Summer, allen Warnungen vor einer globalen Erderwärmung zum Trotz, sein Comeback vor. Der große britische Sommer: das waren, wie sich die Kolumnistin der Eastern Daily Press wehmütig erinnert, Ferientage, die man bei Temperaturen von weit unter 20 Grad und einer steifen Brise am Strand verbrachte. Zum Aufwärmen gab es Tee aus der Thermosflasche und als Proviant Sandwiches mit einer feinen Sandbeimischung. Kein Wunder, vermerkt die Autorin nicht ohne Stolz, dass man uns im Ausland für verrückt hielt.
Doch die Zeiten, da es die Engländer auch bei miserablem Wetter massenhaft an die heimischen Strände zog, sind längst vorbei. Daran vermag
bei. Daran vermag auch der demonstrative Urlaub von Premierminister Blair im von der Maul- und Klauenseuche geplagten Südwesten der Insel nichts zu ändern. Statt in Blackpool oder Margate zu frieren, holt man sich lieber einen Sonnenbrand auf Mallorca oder Ibiza. Das fördert zwar nicht unbedingt das Nationalgefühl, ist aber, nicht zuletzt dank des starken Pfundes, erheblich billiger.»Es war so leicht, englisch zu sein«, schreibt der Fernsehmoderator Jeremy Paxman im Vorwort zu seiner 1998 erschienenen Bestandsaufnahme The English. A Portrait of a People. »Die Engländer gehörten zu den am leichtesten zu identifizierenden Völkern der Erde. Man erkannte sie an ihrer Sprache, ihrem Benehmen, ihrer Kleidung und an der Tatsache, dass sie eimerweise Tee tranken.« Heute sei alles weitaus komplizierter. Allein der Versuch, die Frage, was »britisch« und was »englisch« sei, zu beantworten, ist abendfüllend. Die einzigen Einwohner des United Kingdom, die sich mit Stolz als Briten bekennen, sind die Protestanten Nordirlands, etwas, das keinem Schotten oder Waliser in den Sinn kommen würde. Aber auch in England sieht man statt des Union Jack immer häufiger das St. George Cross. Nicht wenige der Fans, die den Tennisspieler Tim Henman in Wimbledon anfeuerten, hatten ihre Gesichter mit dem roten Kreuz des englischen Nationalheiligen verziert. Und wenn England im September im WM-Qualifikationsspiel gegen die deutsche Nationalmannschaft antritt, wird man dieses noch relativ junge Phänomen ebenfalls beobachten können. Ein Zeichen für ein intaktes Nationalgefühl ist es nicht. Großbritannien steckt in einer veritablen Identitätskrise und England gleich mit. Denn im Unterschied zu Schotten und Walisern können die Engländer ihre nationale Identität eben nicht dadurch stärken, dass sie sich vom Vereinigten Königreich distanzieren.Für den Reisenden vom europäischen Festland ist es hingegen noch immer recht einfach, das typisch Englische aufzuspüren. Da ist das Dorf in Norfolk, das einer Agatha-Christie-Verfilmung entsprungen scheint. Häuschen im Tudorstil, eine rote Telefonzelle, ein, zumindest von außen, uriges Pub und eine trutzige normannische Kirche sorgen für eine Postkartenidylle. Nur der moderne Supermarkt wirkt ein bisschen deplatziert. Das Angebot an Tageszeitungen zeigt, wer hier wohnt. Konservative Blätter wie Daily Mail und Daily Telegraph werden stapelweise angeboten, während man Mühe hat, das eine Exemplar des linksliberalen Guardian zu finden. Hier ist die Mittelschicht zuhause. Höfliche und freundliche Menschen, die sich bei ausländischen Touristen für das schlechte Wetter entschuldigen und bei längeren Unterhaltungen auch schon mal den Zustand des Landes beklagen. Sie sei froh, dass sie heute nicht mehr unterrichten müsse, erzählt die pensionierte Lehrerin und möchte wissen, ob deutschen Schülern wenigstens noch die Grundregeln der Grammatik beigebracht würden.Im Schaufenster des Supermarktes hängen Job-Angebote. Gesucht werden Verkäuferinnen, Friseusen und Köche bei Stundenlöhnen zwischen vier und sechs Pfund brutto. Das sind zwischen 13 und 19 Mark. Eine Schachtel Marlboro kostet mehr als vier Pfund. Das Nationalgericht Fish and Chips ist unter fünf Pfund kaum zu haben. Der Benzinpreis liegt bei stolzen 80 Pence pro Liter. Nicht nur wegen der bescheidenen Verdienstaussichten scheint es fraglich, ob sich viele Bewerber für die angebotenen Stellen finden werden. Im Juni sank die Zahl der Arbeitslosen in Großbritannien (nach einer nicht selten angezweifelten Zählweise) auf unter eine Million, ein Erfolg, den die Labour-Regierung unter Tony Blair gerne als Ergebnis ihrer Wirtschaftspolitik verbuchen möchte. Doch ein rechter Enthusiasmus vermag sich nicht einzustellen. Zu wackelig scheint das Fundament des Wirtschaftsbooms, der hauptsächlich auf einer unverhältnismäßig wachsenden Inlandsnachfrage gründet. Schon gibt es die ersten Massenentlassungen in der Telekommunikationsindustrie und andere Sektoren werden folgen. Denn wenn die Konsumenten plötzlich damit aufhören, mehr Geld auszugeben, als sie verdienen, ist die Rezession da. Und das könnte, angesichts der vielen ungelösten Probleme des Landes vom Bildungssystem bis zum Gesundheitswesen, drastische Folgen haben. Allerdings lässt sich bislang nur ahnen, welche Auswirkungen ökonomische Verwerfungen in einer postindustriellen Gesellschaft haben werden.Die Straßenschlachten in nordenglischen Städten wie Bradford und Oldham stimmen in dieser Hinsicht wenig hoffnungsvoll. Mit dem Niedergang der Textilindustrie verschwand eine ganze Kultur. Für die Kinder jener Einwanderer vom indischen Subkontinent, die vor Jahrzehnten als billige Arbeitskräfte nach England kamen, gibt es nicht nur keine attraktiven Jobs mehr. Es fehlt ebenso die Möglichkeit, sich in einem stabilen Sozialsystem, wie es die englische Klassengesellschaft einmal bot, zu assimilieren. »Stattdessen«, schreibt der Journalist Andrew Gimson im Spectator, »orientieren sich asiatische Jugendliche immer stärker an jener weißen Jugendkultur, die sich durch flegelhaftes und gewalttätiges Verhalten auszeichnet.« Zwar gelinge immer noch einer beträchtlichen Anzahl Einwandererkinder innerhalb einer Generation der Aufstieg in die Mittelschicht, doch generell werde der Bildungsstandard asiatisch-stämmiger Jugendlicher immer schlechter. Ein Grund dafür, so das Ergebnis einer offiziellen Untersuchung der ethnischen Probleme in Bradford, ist die praktische Segregation der Schulen in Städten mit einem hohen Anteil islamischer Einwohner. Dies führt nämlich nicht nur automatisch zu einer größeren Abgrenzung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen untereinander, sondern bringt auch automatisch Probleme für Kinder asisatischer Familien beim Erwerb der englischen Sprache mit sich. Neu ist diese Erkenntnis nicht. Bereits 1985 warnte der Bradforder Schulleiter Ray Honeyford vor den fatalen Konsequenzen einer falsch verstandenen multikulturellen Politik, mit dem Ergebnis, dass er seine Stelle verlor. Nun fühlt er sich in seiner Kritik bestätigt und nutzt die Spalten des Daily Telegraph zu einer Abrechnung mit der Ideologie des Multikulturalismus. Schluss müsse endlich sein mit der besonderen Behandlung von Einwandererkindern in der Schule. »Wir sollten sie als das sehen, was sie sind: Britische Kinder, deren Zukunft davon abhängt, inwieweit sie sich der britischen Kultur und Gesellschaft anpassen.« Was man allerdings genau unter »britischer Kultur« zu verstehen hat, davon schweigt der konservative Schulmann. So viel zur angelsächsischen Variante der Leitkulturdebatte.Was bleibt, ist ein Bild der Orientierungslosigkeit. Vielleicht begann alles damit, dass eine konservative Premierministerin sich anschickte, das Land so zu verändern, wie kein Nachkriegspolitiker zuvor. Ihr Erbe aber trat ausgerechnet ein ewig lächelnder Labourpolitiker an. Dieser redete zwar von einem »dritten Weg«, aber wohin dieser führen sollte, ist im Laufe der letzten Jahre immer unklarer geworden. Irgendwann hat er auch damit aufgehört. Und die Wähler haben ihn mangels Alternative ohne große Begeisterung als ersten Labour-Premier in seinem Amt bestätigt, denn die konservative Opposition hat ihm eigentlich nichts entgegenzusetzen. Vielleicht ist man auch einfach der Politik überdrüssig und schaut lieber zurück. In die Zeit, als man noch wusste, was es heißt, britisch zu sein. Und stolz darauf war, dem pfeifenden Wind trotzend die Zähne in ein sandiges Sandwich zu schlagen.
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