Sängerin der Schöpfung

Nachruf Inger Christensen baute ihre Gedichte nach strengen mathematischen Gesetzen. Trotzdem entfalteten sie eine urwüchsige Sprachmagie. Ein Nachruf auf die dänische Lyrikerin.

Sie hat die schönsten Loblieder auf die Schöpfung gesungen, die in der modernen Lyrik des 20. Jahrhunderts zu vernehmen waren. Die Poetik der dänischen Dichterin Inger Christensen war geprägt vom Naturverständnis der australischen Aborigines, die der Vorstellung anhängen, sie müssten die Welt durch ihren Gesang erschaffen und bei ihren Wanderungen über die „songlines“ alles benennen, was ihre Wege kreuzt – um so die Welt wieder ins Dasein zu singen.
Zu literarischer Unsterblichkeit verhalf ihr der berühmte Anfang des Weltgedichts „alfabet“ („alphabet“), der das Staunen vor den Dingen der Natur im Modus der Wiederholung beschwört: „die aprikosenbäume gibt es, / die aprikosenbäume gibt es“. Das war der Auftakt zu einem veritablen Schöpfungsbericht, der in zunächst knappen, dann immer weiter ausgreifenden Sequenzen die Phänomene der Natur und den Reichtum der Menschenwelt heraufbeschwört.

Als der Münsteraner Verleger Josef Kleinheinrich 1988 mit dem Band „alfabet“ seine bibliophile Inger-Christensen-Werkausgabe eröffnete, war die Autorin nur einem kleinen Kreis von Skandinavisten bekannt. In den Neunziger Jahren zählten ihre Auftritte dann zu den phantastischen Sprachereignissen jedes bedeutenden Poesiefestivals. In den vergangenen Jahren wurde sie dann immer wieder als Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt.1935 in Vejle, einer Küstenstadt im Osten Jütlands, als Tochter eines Schneiders geboren, hat Inger Christensen in den frühen Sechziger Jahren ihre ersten Gedichtbände veröffentlicht. In Århus absolvierte sie ein Lehrerseminar, später studierte sie Medizin, Chemie und Mathematik und arbeitete einige Jahre an einer Kunsthochschule. „Was kommt zuerst“, hat die Dichterin in einem ihrer Essays gefragt, „Rede oder Zahl, Sprache oder Mathematik?“ Um gleich darauf hinzuweisen, dass die dänische Sprache eine Identität zwischen Sprachzeichen und Zahl nahelegt: Auf Dänisch fallen „Tal“ (Zahl) und „tale“ (Rede) zusammen.

So entwickelte die Dichterin ihre Großpoeme „det - das“ (1969), „alfabet“ (1981/1988) oder „Das Schmetterlingstal“ (1991/1995) nach einem rigorosen Ordnungsystem: Das „alfabet“ basiert in seinen 14 Abschnitten auf der sogenannten Fibonacci-Folge, einer nach einem italienischen Mathematiker benannten Zahlenreihe, bei der sich jedes Glied der Reihe aus der Summe der beiden vorangehenden Zahlen errechnet. Aber nicht nur Dichtung und Mathematik wollte Inger Christensen in ein Identitätsverhältnis bringen, auch in der Beziehung von Sprache und Natur, Literatur und Kultur entdeckte sie Strukturgleichheiten. Die Gesetzlichkeiten bei der Entstehung von Gedichten verglich sie mit den sich selbst produzierenden Systemen der Biologie und den Wachstumsprozessen in der Natur: „Wenn ich Gedichte schreibe, dann kann es mir einfallen, so zu tun, als schriebe nicht ich, sondern die Sprache selber.“

Wer ihr bei ihren Lesungen zuhörte, konnte tatsächlich den Eindruck gewinnen, als spreche „die Sprache selber“. Zögerlich, fast schüchtern betrat sie die Dichterbühnen, die schwarze Handtasche immer in Griffweite. Aber wenn sie dann leise ihre Großpoeme „alfabet“, „Das Schmetterlingstal“ oder „Brief im April“ zu rezitieren begann, war man sofort der Magie ihrer poetischen Litanei und ihrem inständigen Sehnsuchtston verfallen. Am vergangenen Freitag ist Inger Christensen, die Sängerin der Schöpfung und bedeutendste Dichterin Europas, wenige Tage vor ihrem 74. Geburtstag gestorben.

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