Heute Morgen habe ich mir wieder ein Kissen unter den Pullover gestopft, genauer gesagt unter einen Gymnastikanzug, damit es besser hält. Wie jedes Jahr habe ich meine langen Haare fest zusammengeknotet, kein einziges soll unter der Mütze hervorlugen, und ich habe mir einen langen, weißen Bart umgebunden. Dann bin ich in eine Hose und einen Mantel aus rotem Vlies geschlüpft. Es ist das Weihnachtsmannkostüm meines Vaters.
Als im Kindergarten meiner Tochter und meines Sohnes vor ein paar Jahren die Frage aufkam, wer denn den Weihnachtsmann übernehmen könnte, habe ich keinen Augenblick gezögert, und seither spiele ich im Kindergarten meiner Kinder den Weihnachtsmann. Oder, um ehrlich zu sein: Ich spiele wohl eher meinen Vater als Weihnachtsmann.
Natürlich ist das stressig, und keiner, der mir sagt, die Kommentare der zum Teil sehr gut aussehenden Mitarbeiter der Berliner Stadtreinigungsbetriebe oder der Bauarbeiter, die morgens um zehn Uhr hier um die Ecke bei Konnopke ihre Currywurst essen, seien doch egal, kann wirklich wissen, wie es sich anfühlt, als Weihnachtsmann verkleidet durch den Prenzlauer Berg zu laufen. Ich hebe trotzdem immer grüßend die Hand, um Humor zu beweisen, vor allem aber, weil ich nichts sagen will. Denn dann müsste ich ja schon vorher meine Stimme verstellen, das aber ist vor den Kindern anstrengend genug. Nur einmal habe ich auf dem Rückweg vom Kindergarten mit meiner normalen Nichtweihnachtsmannstimme zu diesen Männern gesprochen. Ich habe „Seid ihr denn auch alle brav gewesen“ zu ihnen gesagt, und keiner hat mir geantwortet.
Heilisch Amnd
Im Grunde aber hat es in meiner Karriere als Weihnachtsmann schon seltsamere Momente gegeben. Angefangen habe ich als Wichtel. Das muss Anfang der 80er Jahre gewesen sein, ich war sieben oder acht und durfte meinen Vater das erste Mal begleiten. Meine Mutter, die sein Kostüm einst genäht hatte, ebenjenes, mit dem ich heute noch durch Berlin laufe, schneiderte für mich noch eine Miniausgabe, und so zogen wir gemeinsam übers Land.
Ich glaube, ich kann sagen, mein Vater war ein gefragter Weihnachtsmann. Schon weit vor dem 24. hatten wir rund um Wittgensdorf Auftritte bei den Betriebsweihnachtsfeiern des VEB Trikotex und der LPG. Wittgensdorf liegt in der Nähe von Chemnitz, inmitten einer Landschaft, die wir als lieblich bezeichnen, anderen aber eher rau erscheint, und wo man zu jener Zeit Tätigkeiten nachging, die es heute dort so nicht mehr gibt. Man stelle sich das vor, oder vielleicht kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, 80 Mitarbeiter, zumeist Mitarbeiterinnen, im grellen Neonlicht, aber Tannenzweige auf den Tischen, in einer klapprigen Baracke neben der Traktorenhalle, und jede musste ein Gedicht aufsagen. Da war mein Vater streng. Dieses Gejauchze und Gejohle, es wurden Spirituosen, wie man damals sagte, ausgeschenkt, und immer blickte ich auf die großen, rissigen Hände, wenn ich den Frauen und Männern ihre Geschenke übergeben durfte.
Sogar am Heilisch Amnd, wie man bei uns in Sachsen sagt, zog mein Vater, nachdem er meinem Bruder und mir die Geschenke gebracht hatte, weiter durch unser Neubauviertel zu den Kindern befreundeter Familien. Ich beobachtete ihn vom Fenster aus. Auch er hob ab und zu grüßend die Hand, wenn er auf der Straße Leuten begegnete.
Ich glaube, ich war stolz auf ihn, nachdem er mich in sein Geheimnis eingeweiht hatte. Er konnte etwas, was andere Väter nicht konnten und ich wusste etwas, was andere Kinder, selbst mein kleiner Bruder, lange nicht wussten. Von da an muss Weihnachten für mich eine völlig neue Bedeutung bekommen haben. Die Geschenke traten in den Hintergrund – mein Job als Wichtel und Begleiter meines Vaters wurden zum Wichtigsten an Weihnachten. Ich war eingeweiht.
Natürlich wussten damals zumindest die Erwachsenen, wer da als Weihnachtsmann vor ihnen stand, nur ich dachte, dass mein Vater und ich die Einzigen waren, die unsere wahre Identität kannten. Ich habe mir darüber nie wieder Gedanken gemacht, bis vor kurzem, als meine Eltern uns in Berlin besuchten und mein Vater sich im üblichen Tohuwabohu zu mir in die Küche setzte. „Siehste, Maikelchen, jetzt habsch och meine Stasiakte gelesen. Nach 25 Jahren. Steht nischt weider drinne. 75 Seiten.“ Ich war überrascht, sehr sogar. Wegen allem Möglichen.
Ich konnte mir bis zu diesem Moment nicht vorstellen, dass mein Vater eine Stasiakte haben könnte, wir waren eher so eine normale, angepasste Familie gewesen. Und ich hätte auch nicht vermutet, dass mein Vater seine Akte beantragen, lesen und hinterher mit mir darüber reden würde. Bevor ich jedoch meine Überraschung zeigen oder irgendetwas fragen konnte, redete mein Vater in seinem Sächsisch, das ich sehr mag, einfach weiter. Was heißt, er redete weiter? Er selbst hatte beim Sprechen gar keine Pause gemacht, nur in mir war diese Pause entstanden.
„Mor wees ja nisch, wer da über einen geschrieben hat, aber bei eem wussde ischs gleisch. Weil isch de Handschrift erkannt hab. Dahme, Dietmar.“ Es ist bei uns üblich, den Nachnamen voranzustellen. Das bedeutet aber nicht, dass man die betreffende Person nicht leiden kann. Mein Vater hätte an dieser Stelle gar nichts mehr sagen, nicht den Namen noch ein paar Mal ungläubig wiederholen müssen. Ich wusste sofort, wer dieser Dahme, Dietmar war: einer unserer aufwendigsten „Kunden“.
Zu ihm fuhren wir damals sogar mit dem Auto. Ich sehe das noch genau vor mir: ein großer und ein kleiner Weihnachtsmann in einem grauen Trabant Kombi auf der Annaberger Straße in Karl-Marx-Stadt. Kopfsteinpflaster, ich durfte vorn sitzen. An den Ampeln winkten uns die Leute zu, mein Vater zeigte manchen die Rute, und wenn er lachte, verrutschte der Wattebart, den ich dann wieder festdrücken musste. Mein Vater war damals ungefähr so alt wie ich heute und Dahme, Dietmar einer seiner Kollegen. Er lebte allein und freute sich immer, wenn wir am ersten oder zweiten Weihnachtsfeiertag kamen. Er hatte keine Kinder, wir kamen nur wegen ihm und seiner Mutter.
Dahme, Dietmar hat also offenbar zehn Jahre lang Berichte über meinen Vater geschrieben, wahrscheinlich brauchte er Geld. Lappalien, wie mein Vater mir neulich am Telefon sagte. Er habe lachen müssen, dort in dem Raum, in dem man sitzt, wenn man seine Akte zu lesen bekommt. Er habe zum Fenster hinausgeschaut und gelacht. Vermutlich auch über die Vorstellung, dass er als Weihnachtsmann Jahr für Jahr vor einem IM stand, der über seine mangelnde Zuversicht hinsichtlich des Sieges des Sozialismus schrieb, ohne dass er es wusste. Dabei hatte mein Vater doch die ganzen Jahre in der DDR vorgegeben, jemand anderes zu sein. Nämlich der Weihnachtsmann. Offenbar aber hatte das nicht ganz funktioniert.
Das Ding mit dem Ring
Als mein Vater vor einigen Wochen in meiner Küche saß und mir von seiner Akte erzählte, konnte ich ihn gar nichts fragen. Ich war viel zu überrascht. Inzwischen haben wir öfter telefoniert, jedes Mal nach einem solchen Telefonat schreibe ich mir weitere Fragen auf einen Zettel. Ich kenne meinen Vater nun seit fast 40 Jahren, aber so viel haben wir noch nie miteinander geredet. Wenn er nun von seinem Damals erzählt, ist es, als würde er mich noch einmal in ein Geheimnis einweihen.
Noch heute kenne ich die wichtigsten Tricks, die man als Weihnachtsmann beachten sollte, um möglichst nicht erkannt zu werden: Fingerringe und Armbanduhren abnehmen, Schuhe wechseln, sich nicht aus dem Konzept bringen lassen, wenn Fussel vom Bart zwischen die Lippen geraten. Und, ganz wichtig: sich niemals vor Ort umziehen!
Ein Weihnachtsmann kommt von draußen herein. Immer. Und er muss dabei, Zufall oder Absicht, gesehen werden können. Wir haben nie mit billigen Ausreden gearbeitet, von wegen „wir mussten noch mal auf Toilette“ oder so. Nur weil wir den Aufwand gescheut oder gefürchtet hätten, man könnte sich über uns lustig machen. Wenn wir unsere Wohnung in Wittgensdorf verließen und loszogen, waren wir, mein Vater Claus und ich, das Maikelchen, der Weihnachtsmann. Und auf eine Art sind wir das bis heute geblieben.
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