Entsorgen ist bequemer als reparieren. Wirft man einen alten Radiowecker auf den Müll, heißt es: „Wegwerfmentalität“. Wenn aber gesellschaftliche Strukturen entsorgt werden, lobt man dies jetzt immer häufiger als zeitgemäß. Das tun die Vertreter der NoBillag-Initiative, über die die Schweizer Stimmbevölkerung am Sonntag abstimmt (Freitag 01/2018). Benannt nach dem schweizerischen Pendant der GEZ geht es dabei um mehr als Gebühren. Man will dem Bund qua Verfassung jede Beteiligung am Rundfunk untersagen. Über die Auswirkungen einer Annahme von „NoBillag“ ist viel geschrieben worden. Erwartet wird ein Einbruch der Medienvielfalt in der viersprachigen Eidgenossenschaft, das Massensterben gebührenfinanzierter lokaler Sender und die Übernahme frei werdender Frequenzen durch rechte Medienmogule. Doch auch das Vorgehen an sich ist fatal: Aus ideologischen Erwägungen soll eine funktionierende öffentliche Institution zerstört werden. Das Ansinnen der Initianten aus den Reihen der Jungfreisinnigen ist ein ultralibertäres: Unter dem Deckmantel eines Kampfes gegen Bevormundung sollen gesellschaftlicher Kontrolle unterstehende Strukturen demoliert und das Brachland der „unsichtbaren Hand“ des Marktes überlassen werden. Gegenüber der Bevölkerung wird dabei nur an eine negative Freiheit appelliert, die Freiheit von Gebühren. Die Freiheit, etwas zu tun, soll ausschließlich den Marktakteuren vorbehalten sein, die die frei gewordenen Brachen bewirtschaften. Dem Bürger steht dann nur noch frei, zwischen Angeboten zu entscheiden. Natürlich ist das monetäre Argument verlockend. Wer will nicht gern jährlich 451 Franken mehr im Familienbudget? Doch das gleicht die Verlustrechnung nicht aus – das Abhandenkommen eines Medienfeldes, das nicht komplett der Marktlogik unterworfen ist. Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) ist kein „Staatsfunk“, nicht einmal eine „öffentlich-rechtliche“ Anstalt. Sie ist ein privatrechtlicher, in den 1930ern von regionalen Radiosendern gegründeter Verein, dem jeder Bürger beitreten kann. Es gibt demokratische Kontrollmechanismen, etwa gegen einseitige oder voreingenommene Berichterstattung. Eine solche Selbstverpflichtung werden sich privatwirtschaftlich agierende Sender wohl kaum auferlegen.
Die Abstimmenden sollen dazu verleitet werden, Strukturen, die zwar nicht perfekt, aber offen und veränderbar sind, zu zerstören – ohne Not. Parallelen zum Brexit liegen auf der Hand. Auch dort spielte man das Spiel der vermeintlichen Befreiung von Zwang. Herausgekommen ist das Gegenteil, etwa auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes. Britische Beschäftigte werden bald, auf sich alleine gestellt, ganz anderen Zwängen ausgesetzt sein. Der vermeintliche Kampf der NoBillag-Initianten für den mündigen Bürger führt in Wirklichkeit zu einer Entmündigung der Gesellschaft. Diese Erkenntnis scheint sich durchzusetzen. Bis zu 60 Prozent wollen laut Umfragen „NoBillag“ an der Urne versenken. Doch, so lehrt der Brexit, ist vor dem Wahltag nichts entschieden. In jedem Fall zeigten die letzten Monate, wie notwendig es ist, mit guten Argumenten die Errungenschaften der Gesellschaft zu verteidigen gegen libertäre Apostel, die sie als solche entsorgen wollen und dies als Dienst am Bürger kaschieren.
Kommentare 10
käme jemand darauf, die staatl. grund-versorgung in bildung:
schule zu privatisieren,weil die gebühren/steuern dafür
dem gebühren/steuer-zahler zu ersparen wären?
die allgemeine anstrengung ist doch eher auf mehr transparenz und effizienz
der öffentlichen bildung gerichtet.
warum nicht ebenso bei der öffentl. grund-versorgung mit infos?
weil markt-radikale sich un-gern gewinn-erwartungen abschneiden lassen!
Selbstverständlich geht es dabei um viel mehr als "Gebühren", obwohl gerade die Gebühren auch bei uns im pseudo-christlichen Merkelland von den Kritikern der überwiegend gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medien immer gern als Scheinargument ins Feld geführt werden.
Scheinargument deshalb, weil die Kritiker der öffentlich-rechtlichen Medien immer so tun, als ob das Privatfernsehen und die privaten Rundfunksender für die Bürger kostenlos wäre.
Abgesehen von der zuweilen infantilen, nervigen und vor allem zeitraubenden Werbung, muss jeder seriöse Kritiker des ÖR die FRAGE beantworten: Wer bitte bezahlt die vielen privaten Medien, die sich über Werbung, PR usw. finanzieren, am Ende?
ANTWORT: Am Ende der Verbraucherkette zahlen über den Kauf von Produkten und Dienstleistungen dafür fast alle Bürger und zwar auch diejenigen, die keine privaten Sender schauen/hören bzw. überhaupt keinen Fernseher und kein Radio haben.
Denn welcher Hersteller/Anbieter schreibt auf die Verpackung "Mit dem Kauf dieser Tüte Gummibärchen zum Preis von 1,19 Euro zahlen Sie 37 Cent für die Werbung?"
Das gilt selbst für die Bürger, die ganz bewusst keine Produkte kaufen, für die gezielt Werbung gemacht wird. Niemand kann realisterweise nämlich alle Produkte kennen, für die tagtäglich in den verschiedenen Medien Werbung gemacht wird. Außerdem zielt PR in erster Linie auf das Unternehmen und nicht auf bestimmte Produkte. Nicht selten verwenden Unternehmen bei der Kostenträgerrechnung auch eine Mischkalkulation.
Es sei denn, man gehört zu den Konsumenten im Merkelland, die alle Lebensmittel und den Strom selbst produzieren, ihre Bekleidung eigenhändig aus Schafswolle anfertigen, die Mittel für die Körperpflege (Seife, Shampoo, Deospray usw.) selbst erzeugen, keine Brille beim "Discounter" F. kaufen, tatsächlich keinen Fernseher, kein Radio und kein Auto haben und nie in den Urlaub fahren. Wie viele Bürger sind das bei Lichte betrachtet? Einer oder zwei oder vielleicht sogar drei?
Unabhängig davon ist es meiner Meinung nach nicht in Ordnung, wie dies im Merkelland allerdings derzeit der Fall ist, dass Bürger auch dann GEZ-Gebühren bzw. Rundfunkbeiträge zahlen müssen, wenn sie nachweislich keinen Fernseher und kein Radio haben und sich bereit erklären, dies jederzeit unangemeldet überprüfen zu lassen.
Mit der Überschrift schütten Sie das Kind aber mit dem Bade aus. Wenn es z.B. in X- Jahren durch technische Entwicklungen überhaupt kein Rundfunk und Fernsehen mehr geben sollte, gibt es die Schweiz immer noch, da bin ich mir sehr sicher.
Ich kenne die spezifischen Schweizer Verhältnisse nicht, die zu NoBillag geführt haben. Aber m.E. ist der Versuch etwas abzuschaffen, immer die Reaktion darauf, dass eine Reform gescheitert ist. Insofern ist der Vergleich mit dem Brexit schon richtig. Die Eliten GBs wollten eine andere EU, hatten aber keinen Erfolg damit. Also haben sie die Bevölkerung so weit manipuliert, dass sie den Brexit als „Befreiung vom Zwang“ empfinden.
Selbst wenn, wie derzeit die Umfragen zeigen, NoBillag scheitert, bleibt das Problem der Reformen virulent.
Parallelen zu Deutschland sind rein zufällig – deshalb auch der Angstschweiß bei allen ÖR- Medien in Deutschland.
Ich bin kein Freund von Kommentardiskussionen, würde aber gerne kurz klarstellen, dass die Überschrift nicht von mir gewählt ist - ich hätte sie auch gerne weniger alarmistisch gehabt.
Es wird nicht passieren.
Trotzdem ist es vielleicht ganz gut, dass es diese Abstimmung gibt. Sie wird zwei Dinge zeigen. Erstens, dass eine solide Mehrheit der Schweizer (bzw. derjenigen, die zur Abstimmung gehen) durchaus bereit ist, die Gebühr zu zahlen, um einen Service public im Rundfunk zu haben. Zweitens, dass es nicht eben wenige gibt, die das Bevormundende im öffentlich-rechtlichen Journalismus der Schweiz satt haben (denn so gut wie keiner wird wegen der eher mässigen Gebühren NoBillag stimmen).
Als 1989 bei einer hohen Wahlbeteiligung 35,6% für eine Abschaffung der Schweizer Armee stimmten, hat sich danach in der Schweizer Armee einiges geändert.
Es scheint nur einzelne Gemeinden zu geben, in denen NoBillag knapp gewinnt, selbst in Kantonen, die von der SVP dominiert sind. Insgesamt geht es wohl klarer für die Rundfunkgebühren aus als das bei einer ähnlichen Abstimmung in Deutschland der Fall wäre.
71,6% gegen NoBillag, in keinem einzigen Kanton hat die Initiative eine Mehrheit gefunden. Die SRG hat allerdings der Diskussion zugehört, will Mittel einsparen und mehr eigenes Profil bei Filmen und Serien zeigen. Die unbeliebte und bei öffentlich-rechtlichen Sendern in Deutschland unübliche Unterbrecherwerbung bei Spielfilmen soll verschwinden.
Zu so etwas sind solche Abstimmungen gut. Die Angegriffenen versuchen hinterher ihre Angriffsfläche zu verringern. ARD und ZDF könnten eine derartige Diskussion über das, was falsch läuft, und etwas Veränderungsdruck durchaus auch gebrauchen.
Was spricht FÜR die Abschaffung der (deutschen) ÖR-Anstalten?
1. Werbung. Wieso muss ich den unsäglichen Scheiss ertragen, trotz Gebühren? Unverschämtheit..
2. Verflachung und Verblödung. Der ÖR scheint im Wettbewerb mit den Privaten zu stehen. Zielgruppe verfehlt.
3. Politisch einseitige Hofberichterstattung, keinerlei Diskurs zu WESENTLICHEN Themen. Immer die selbe Meinung, immer die selben Figuren.
4. Kein ernstzunehmender Journalismus mehr. Nachplappern & Abschreiben von Agenturmeldungen, Breichterstattung aus 1000km entfernten Hotels statt vor Ort. Kampagnen-"Journalismus" bis zum Brechreiz.
5. Ausufernde Verschwendung und Krebszellen-artiges Wachstum. Wieviele TV- und Rundfunkprogramme haben die ÖR inzwischen? Wozu brauche ich gleich WDR 5 oder Bayern 4? Alle natürlich mit eigenen Büros, Direktoren ...
Das Alles bekomme ich genau so gut (bzw. so schlecht) von den Privaten. Einzige Chance, einem ÖR zuzustimmen wäre m.E. das Abstellen dieser (und bestimmt weiterer 200) Kritikpunkte.
/// Das Alles bekomme ich genau so gut (bzw. so schlecht) von den Privaten. Einzige Chance, einem ÖR zuzustimmen wäre m.E. das Abstellen dieser (und bestimmt weiterer 200) Kritikpunkte. ///
Sorry, das ist doch Quatsch. Man kann sicher über einiges reden, manche Dinge beim öffentlichen überdenken und ändern. Aber gerade Spartenprogramme machen den ÖR aus. In der Schweiz gibt es Radio- und Fernsehen auch in Rätoromanisch und von den Gebühren profitieren auch Regionalsender.
In Deutschland gibt es sicher verdammt viele ÖR Sender, Fernsehen und Radio. Aber auch ein Bayern 5 oder hr2 die evt. nur von 50000 Hörern täglich gehört werden möchte ich nicht missen.
Sie zahlen doch sicher auch Abfallgebühren in ihrer Gemeinde obwohl sie die Mülltonne nur zu einem Zehntel füllen.
@qualidat
Ganz schön "trickreich" und rabulistisch die Argumentation von "qualidat", aber unter dem Strich doch nicht clever genug.
Selbst dann, wenn die einzelnen Kritikpunkte von "qualidat" zuträfen und man dieser Kritik im Detail sogar zustimmen würde, bedeutet dies nicht, dass ohne die öffentlich-rechtlichen Sender irgendetwas besser wäre.
Ganz im Gegenteil, die "Verflachung und Verblödung", die einseitige und oberflächliche Berichterstattung usw. würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch weiter zunehmen. Der von Neoliberalen und Marktradikalen viel gepriesene "Wettbewerb" würde abnehmen, weil es einen großen und für die privaten Sender "lästigen" Konkurrenten weniger gäbe.
Was hält schließlich die privaten Fernseh-und Rundfunksender davon ab, mehr Qualität und weniger "Kuh sucht Bauer" oder "Wer frisst die meisten Kakerlaken im Dschungelcamp?" oder "Hilfe, mein Kanarienvogel ist ist lesbisch." auszustrahlen?
Warum müssen die privaten Sender eine "Dauerwerbesendung" auch noch alle 10 Minuten mit zusätzlichen Werbespots unterbrechen? Man muss kein besonders "christlicher" Mensch sein, aber einmal im Jahr am Karfreitag könnten die privaten Sender doch auf die penetranten Werbespots verzichten oder etwa nicht?
Was hält die privaten Sender davon ab, dem ÖR Konkurrenz zu bieten und qualitativ immer noch hervorragende Sendungen wie z. B. "Die Anstalt", "quer", "zapp", 3sat-Kabarett usw. zu produzieren? Das sind Sendungen, in denen manchmal sogar der eigene öffentlich-rechtliche Sender nicht von Kritik verschont wird. Der Jounalist oder Moderator, der das bei den privaten Sendern macht, macht das nur ein einziges Mal.
Und warum wird von allen Kritikern des ÖR immer unterschlagen, dass fast jeder Bürger im "christlichen" Merkelland über Werbung, PR usw. zwangläufig die privaten Sender mitfinanziert, denn welcher Hersteller schreibt schon freiwillig auf die Verpackung "Mit dem Kauf dieser Tüte Gummibärchen zum Preis von 1,19 Euro zahlen Sie 37 Cent für Werbung und PR."? (siehe dazu ausführlich oben).
Insgesamt kostet das die Bürger etwa so viel wie alle Haushalte zusammen an "Gebühren" für den ÖR zahlen.
Falls an dieser Stelle das von Neoliberalen und von Großkonzernen bezahlten Wirtschaftslobbyisten immer gerne vorgebrachte Totschlag-Argument der Arbeitplätze kommt: auch der ÖR schafft Arbeitsplätze. (Und nein, ich arbeite weder direkt noch indirekt beim ÖR.)
Fazit: Die Argumentation von "qualidat" für die Abschaffung des ÖR ist qualitativ nicht sehr überzeugend.