Schatten im Stein

Atomwaffen Warum dulden wir die Männer, die mit ihren Atomwaffen die ganze Menschheit erpressen?

Im Moment verschwinden die Diplomaten und Touristen, während die Journalisten aus Europa und Amerika in Scharen kommen. Viele von ihnen sind im Hotel Imperial in Delhi untergebracht. Viele rufen mich an: Warum sind Sie immer noch da? Warum haben Sie die Stadt nicht verlassen? Halten Sie einen Atomkrieg nicht für möglich?

Ja, sicher, aber wohin soll ich gehen? Wenn ich weg gehe und wenn alle Freunde, alle Häuser, die Hunde, Eichhörnchen und Vögel, alles, was ich kenne und liebe, verbrannt sind - wie soll ich dann weiterleben? Wen soll ich lieben und wer wird mich lieben? Welche Gesellschaft wird mich willkommen heißen und wird mir erlauben, der Rowdy zu sein, der ich hier zu Hause bin?

Wir haben beschlossen, dass wir alle hier bleiben. Wir sind zusammengerückt, wir erkennen, wie sehr wir uns lieben, und wir denken an die Schande, jetzt, in diesem Augenblick zu sterben. Wir wollen leben, normal leben, auch wenn das Grauen die Norm zu werden beginnt. Während wir auf Regen, auf Fußball, auf Gerechtigkeit warten, reden alte Generäle und junge, aufgeputschte Fernsehkommentatoren über Erstschlags- und Zweitschlagskapazitäten, als wenn es um ein Gesellschaftsspiel ginge.

Meine Freunde und ich diskutieren über Prophecy, den Film über Hiroshima und Nagasaki, über die Toten, die im Fluss treiben, über die Lebenden, die Haut und Haar verloren haben. Wir erinnern uns an den Mann, der nur noch ein Schatten im Stein war und stellen uns vor, wie wir selbst zu Flecken auf den Stufen unseres Hauses werden.

Mein Mann arbeitet an einem Buch über Bäume. In einem Kapitel beschreibt er den Blütenstaub der Feigen und die Wespen, die emsig für die Befruchtung sorgen. Es gibt fast tausend verschiedene Feigenwespen. Sie alle werden vernichtet, wie mein Mann und sein Buch.

Eine teure Freundin, die gegen den Staudamm im Narmadatal kämpft, ist in den Hungerstreik getreten. Sie und die anderen, die ihrem Beispiel folgen, werden jeden Tag schwächer. Sie protestieren, weil die Regierung Schulen niederwalzt, Wälder abholzt und die Menschen aus ihren Dörfern verjagt. Der Hungerstreik ist ein Zeichen des Glaubens und der Courage. Gegen eine Regierung, die sich an eine verwüstete Welt gewöhnt.

Terroristen haben die Macht, einen Nuklearkrieg zu provozieren, während Gewaltfreiheit der Verachtung anheim fällt. Vertreibung, Enteignung, Hunger, Armut, Krankheit - man findet sie noch, in zynischen Comics. Inzwischen predigen die Gesandten der Anti-Terror-Koalition Zurückhaltung. Tony Blair ermahnt zum Frieden - und verkauft, unter der Hand, Waffen an Indien und an Pakistan.

Die letzte Frage, die jeder Journalist stellt, ist immer dieselbe: "Schreiben Sie ein neues Buch?" Diese Frage ist eine Verhöhnung. Ein neues Buch? Während die Monster, die diese Welt regieren, Musik, Kunst, Architektur, Literatur und die gesamte menschliche Zivilisation mit Füßen treten, soll ich eine neues Buch schreiben? Welchen Sinn hat jetzt noch ein Buch? Das ist eben das, was Atomwaffen anrichten, ob sie eingesetzt werden oder nicht. Sie verletzen alles Menschliche, sie ändern den Sinn des Lebens. Warum tolerieren wir diese Waffen? Warum dulden wir die Männer, die mit ihren Atomwaffen die ganze Menschheit erpressen?

Übersetzung aus dem Englischen von Hans Thie

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