Krähen tippeln gemächlich über die Wiese. Im Birkenwäldchen läuft ein einsamer Jogger. Am Hang auf einer Schaukel sehe ich eine Frau mit langem, blondem Pferdeschwanz. Weit holt sie Schwung, schaukelt in hohem Bogen, ihr Pferdeschwanz wippt auf und ab im Takt der Kinderschaukel.
Ich laufe den Weg entlang am Fuße des Hanges. Hauptsache, erst mal raus. Einfach ein Stück gehen. Das hilft hoffentlich. Hole ich mir eine Schachtel Kabinet? Nein, ich bleibe eisern, rede ich mir gut zu. Es ist ein trüber Tag. Als ich umkehre, sehe ich die Frau noch immer schaukeln. Wenn man hoch schaukelt, bekommt man das Gefühl, über allem zu schweben, und beim Abwärtsschaukeln dieses Magensausen. Das könnte den Cortisol-Spiegel senken. Eine Revolution in der Medizingeschichte. Und ganz pragmatisch frage ich mich: Wie oft und wie lange muss man schaukeln, um sein Risiko für einen Schlaganfall zu halbieren? Plötzlich - mit einem Satz springt die Frau von der Schaukel herunter, streift den Jackenärmel hoch und blickt auf ihre Uhr. Dieses Mal nehme ich meinen Weg ziemlich dicht an ihr vorbei und merke, wie sie sich zu mir umdreht. "Hast du eine Zigarette", fragt sie und sieht mich mit großen grünen Augen unter ihrem Fransen-Pony an. Ich schüttele den Kopf: "Bin gerade dabei, es mir abzugewöhnen." "Schade", sagt sie, "dann muss ich mir eine drehen". Sie greift in die Tasche ihrer Kunstlederjacke, die am Bund schon viele kleine Risse hat.Schnell verabschiede ich mich, meine letzte Zigarette ist erst zehn Tage her. Dieser Tag noch, sage ich mir, dann bist du übern Berg. Der nächste Tag ist wieder trüb und regnerisch, aber das ist nicht alles. Bis zum Abend muss ich den Stoff für Statistik draufhaben: Ursache, Wirkung, Zufälle, Korrelation, Wahrscheinlichkeit ... Mit welcher Wahrscheinlichkeit kann der Flügelschlag eines Kolibris auf der anderen Seite der Erde einen Hurrikan auslösen? Auf meinem Schreibtisch liegen mehrere aufgeschlagene Bücher. Lose Blätter mit Notizen und Entwürfen für Overhead-Folien stapeln sich so hoch wie mein Wasserglas. Sieht so aus, als müsste ich wieder bis Mitternacht hier sitzen und morgen früh noch schnell zum Copy-Shop gehen. Da sehe ich plötzlich ein Stück Blau, als ich aus dem Fenster blicke und denke: Nichts wie raus! In einer Stunde wieder Wolken? Wer weiß? Und ich werde mir eine Schachtel Kabinet holen. Unparfümierte Zigaretten. Die werden meine Sucht nicht so schnell wieder anstacheln, oder? "Hey, du, wenn du keine Zigaretten hast, willst du dann vielleicht schaukeln?" Die Frau mit dem Pferdeschwanz steht am Wegrand, hält den erhobenen Zeigerfinger, den sie vorher angeleckt hat, in den Wind. Zielgerichtet geht sie zu einer der Schaukeln, die halbkreisförmig auf dem Hang stehen. Ich stelle mich an den Pfosten ihrer Schaukel. "Es ist nicht egal, in welche Richtung man schaukelt?", frage ich. "Keinesfalls", antwortet sie, "sondern immer mit dem Wind!" "Und was ist, wenn man in eine andere Richtung schaukelt?" "Das stört nicht weiter, aber es hat keine Wirkung." "Was für eine Wirkung?" "Homöopathisch. Kleinste Änderung der Luftbewegung, große Änderung im Klima!" "Du beeinflusst das Klima?" "Die Erde versucht sich abzukühlen", erklärt sie mir. "Es ist immer trübes Wetter, da die Luftfeuchte angestiegen ist." "Und du versuchst Wind zu machen?" "Ich versuche, den Wind zu verstärken und gleichzeitig versuche ich, dass er gleichmäßiger weht ..." "Du kannst den Wind nivellieren?" "Wenn Du so willst, ja. Ich möchte die erdeigenen Kräfte unterstützen, damit es im Sommer nicht mehr so schwül ist, im Herbst weniger Hurrikans gibt, dass es im Dezember schneit, dass die Eisflächen am Nordpol nicht weiter abschmelzen, so dass den Eisbären ihr Lebensraum bleibt. Sie warten an einem Loch im Eis, bis eine Robbe auftaucht, um Luft zu holen. Dann schlagen Knuts Brüder zu. Doch der arktische Sommer ist viel zu lang geworden. Ihnen fehlt das Eis, die Eisbären fressen schon ihre eigenen Kinder auf. Daraufhin hole ich meine Schachtel Kabinet hervor. Wir rauchen schweigend. "Eigentlich ist Rauchen auch schädlich für das Klima", sagt sie plötzlich, "für jedes Kilo Tabak stirbt ein Baum im Regenwald." Ich nicke und sage: "O.k., eine Zigarette. Einmal schwach geworden, heißt nicht, dass ich die gesamte Schlacht verloren habe." "Ich kann nicht aufhören", beteuert sie, "wenn ich das täte, könnte ich nicht mehr schaukeln!" Ich schenke ihr die angebrochene Schachtel. "Oh, dann kann ich heute noch länger schaukeln." Lächelnd prüft sie erneut die Windrichtung ... Seit fünf Wochen bin ich rauchfrei, das trübe Wetter ist geblieben. Das Mädchen auf der Schaukel sehe ich nicht mehr, obwohl ich täglich zwei Spaziergänge mache. Hat sie sich eine andere Schaukel gesucht in einem anderen Park? Wo die Windrichtung günstiger ist ... Niemand schaukelt. Ich nehme mein Taschentuch, wische das Schaukelbrett notdürftig trocken, setze mich auf die Schaukel, hole Schwung, erhebe mich in die Luft und bin plötzlich selbst das Mädchen mit Pferdeschwanz, kann wieder schaukeln, ohne beim Abwärtssausen an eine Zigarette denken zu müssen. Vielleicht schlägt gerade jetzt am anderen Ende der Welt ein Kolibri mit den Flügeln und bringt einen Eissturm zu Knuts Brüdern.
Anke Noll, Jahrgang 1971, verbrachte ihre Kindheit in einem kleinen Dorf im Erzgebirge, absolvierte eine Schuhfacharbeiter-Lehre in Weißenfels und studierte Ernährungswissenschaften in Jena. Seit 1996 ist sie freiberufliche Ernährungswissenschaftlerin und Fachjournalistin in Erfurt und Berlin. Sie schreibt Gedichte, Kurzgeschichten und an einem Tagebuch-Roman.
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