Duschen obligatorisch" stand auf der lindgrünen Plastiktür. Doch was auf die Besucher auf den rot umwickelten Plastikstühlen in dem leeren Schwimmbecken in Leukerbads Altem Bad St. Laurent niederging, war eine ästhetische Berieselung. Dem im 15. Jahrhundert als Baderefugium des Adels zu Ansehen gekommenen Schweizer Kurort fehlt das Lebenselixier. Wasser ist genug da. Doch die Besucher in dem strukturschwachen Gebiet mit der überdurchschnittlichen Arbeitslosenquote fehlen. Eine größenwahnsinnige Politik hat den kleinen Ort in einer Sackgasse der Walliser Alpen, 1411 Meter über dem Meeresspiegel, auf marmorverkleideten Investitionsruinen sitzen lassen. Die Schwimmbecken bleiben leer. Bis der Zürcher Avantgardeverleger Ricco Bilger und sein Kompagn
agnon Rene Grüninger kamen. 1993 versuchte der in Leukerbad geborene Bilger zum ersten Mal mit der Kunst die Karre aus dem Dreck zu ziehen. Mit wachsendem Erfolg. Zum sechsten Mal hielten vergangenes Wochenende bis zu 300 Teilnehmer drei Tage lang den Kopf unter eine Wortdusche von Durs Grünbein bis Assia Djebar.Kann, ja soll die Kunst die "Krusten aufbrechen" in einem Ort, wo von der 2.000 Meter hohen Gemmiwand der Schnee von gestern zu Tale stürzt? Wo sich morgens beim Frühstück die Hotelgäste an den Händen halten und dem Allmächtigen danken, weißhaarige Rentner in Flauschmänteln durch die Badegänge tapsen, abends Vico-Torriani-Kellner mit Hammond-Orgeln vor den Lokalen die Gäste in den Schnitzelschlaf wiegen und die einzige mutmaßliche Lasterhöhle, die rötlich schimmernde Chinchilla-Bar in der Hauptsaison geschlossen ist?Es war eine der nachhaltigsten Erfahrungen des Leukerbader Festivals, dass die Literatur der Verfolgten in der Enge des abgelegenen Bergdorfes mehr Wirkung entfaltete als in der Metropole, wo die Not im urbanen Rauschen ins Unmerkliche diffundiert. Als der Iraner Abbas Maroufi erzählte, wie er von der iranischen Zensur drangsaliert wurde, weil er in seinen Büchern Symphonie der Toten und Die dunkle Seite unverschleierte Frauengestalten dargestellt hatte, konnte man abends in dem von Kandelabern bengalisch erhellten Bad eine Stecknadel fallen hören. Dagegen nervte der selbstverliebte türkisch-spanische Jose Oliver mit der Peinlichkeit, dass er dichte, "weil er so sehr liebe". Doch das Prinzip Scheherezade: Erzählen, um den Herrscher vom Morden abzuhalten, auf das sich Maroufi emphatisch berief, ist zwiespältig. Denn die als exotische Metapher herhalten muss, verdämmerte ihr Leben in der Unfreiheit der Patios. Die beiden Algerierinnen Assia Djebar und Leila Marouane schildern in ihren Büchern Weit ist mein Gefängnis und Das Mädchen aus der Kasbah den Kampf, denen Stimme zu verleihen, denen man den "Ton aus dem Leib geschabt" hat. In den Südschweizer Alpen konnte man ihn gut hören.Das Leukerbader Festival war eine gelungene Gratwanderung zwischen Genuss und Erkenntnis. Manchmal schrammte die ästhetische Reha-Maßnahme für einen Patienten mit Gehbeschwerden knapp am geriatrischen Plauschbad vorbei. Als sich die Literatursüchtigen nach durchzechter Nacht im römisch-irischen Bad trafen, um dem russischen Schriftsteller Andrej Kurkow zuzuhören, schwang sich der zerknitterte Peter Stamm schnell ins 23 Grad warme Thermalbecken. Doch mehr als einmal gelangte das Festival, ein Musterbeispiel an Intimität ohne Klebrigkeit, das nicht im Biennalefieber lag, sondern in Liebe zur Provinz erblühte, unangestrengt auf die Höhenzüge der Weltliteratur: Was für eine Mischung aus Ironie und Philosophie, Weltläufigkeit und Bodenständigkeit! Welch scharfen Blick der Multiperspektive und der Wechselidentität pflegt schon so lange so brillant einer der zeitgemäßesten deutschsprachigen Autoren, der Schweizer Hugo Loetscher! Dafür würde man jederzeit drei Generationen Pop eintauschen. Für seinen mit dem jungen belgischen Germanisten Jeroen Dewulf vorgetragenen Dialog-Essay über Die Mulattisierung der Welt und seinen Schlusstext zu der Frage: Was - wenn Gott ein Schweizer wäre?, erhielt der 1929 geborene Autor standing ovations.Leukerbad und der erstmals an Durs Grünbein und Thomas Hettche verliehene Literaturpreis Spycher des nahen Schlosses Leuk sind ein aufregendes Experiment in Transsubstantiation. Aus dem Brot der Literatur soll das Blut eines neuen Lebens werden. Auf sein Heimatdorf wendet Ricco Bilger das Prinzip Scheherezade an. So lange hier erzählt wird, senkt sich der Daumen der Pleite nicht. Für diesen Fluss der Literatur soll gelten, was das Leukerbader Burgerbad als Motto über den Eingang geschrieben hat: "Quell des Lebens, fließe immerdar."Weitere Informationen unter www.wuerfelwort.ch