Scheitern als Tanzen

Bühne In Paris gelingt Jérôme Bel das Kunststück, mit "Cédric Andrieux" eine Tänzerbiographie zu erzählen, die dem großen Choreographen Merce Cunningham skeptisch huldigt

Vom Programmheft des Pariser Festival d‘Automne grüßt ein Foto des Tänzers und Choreographen Merce Cunningham. Dem im Sommer dieses Jahres verstorbenen „unvergleichlichen Pionier“ (Programmheft) wird in diesem Herbst in Paris gehuldigt: Seine Compagnie zeigt das Stück Nearly 90/2, außerdem steuern Boris Charmatz und Jérôme Bel Arbeiten bei, die sich mit Cunninghams Werk befassen.

Um so erstaunlicher ist, wie unverdrossen offen letzterer seine Huldigung auslegt. Jérôme Bel, selbst Pionier eines Konzepttheaters, das den Tanz auf eine äußerst originelle Weise behandelt, hat mit dem Tänzer Cédric Andrieux ein Solo erarbeitet. Cédric Andrieux ist das fünfte Stück dieses seriellen Projekts, das mit minimalen Mitteln – es wird eine Künstlerbiographie erzählt und es werden Werkausschnitte getanzt – auskommt. Andrieux hat acht Jahre bei Cunningham verbracht, und so geht ein nicht unbeträchtlicher Teil des 75 Minuten langen Abends über den großen, damals schon alten Mann des modernen Tanzes.

Dem 1977 in Brest geborenen Andrieux schien ein Engagement bei Cunningham als Anstellung im Olymp seiner Profession. Die Ernüchterung folgte auf dem Fuße: Von den Proben, in denen auf Kommandos Cunninghams immer nur einzelne Abläufe geübt wurden („Shoulders“, „Bounces“, „Feet“), war Andrieux deprimiert. Im Pariser Théâtre de la Ville, wo Bels Stück am Montag Premiere hatte, kommentiert er die Übungen mit seinen Gefühlen: „Was ich am meisten gehasst habe“, „das mochte ich, weil es dynamischer ist“, und erzählt, dass er bei den zumeist stupiden, anstrengenden Übungen an seinen Kühlschrank und die Einkäufe am Abend gedacht habe.

Es ist diese Genauigkeit des Texts, die dem Abend seine Tiefe verleiht. In der fast schüchternen Nüchternheit mit der Andrieux allein auf der großen, leeren Bühne des Théâtre de la Ville steht werden die Arbeitsbedingungen unter Cunningham sichtbar, der, weil er ob seines hohen Alters nicht mehr selber vortanzen konnte, seine Figuren am Computer mit einem eigens für ihn entwickelten Programm kreierte und dann durch detaillierte Befehle („Arm, links, seitlich, mittelhoch, gespannt“) seinen Tänzern übermittelte. Ein wackeliger Andrieux führt die Unmöglichkeit der Computer-Simulation vor, und berichtet, dass sich Cunningham nur noch für die Momente des Scheiterns interessiert habe, zu denen er seine Tänzer bei der Arbeit an der Grenze ihrer Fähigkeiten trieb. Durch die Sachlichkeit, mit der Andrieux berichtet, bleibt dem Publikum Erregung und Entspannung überlassen – nie gerät der Abend zu einer Abrechnung.

Der schönste Moment ist aber die Stelle, in der der Tänzer, der mittlerweile an der Lyoner Oper arbeitet, eine Szene aus Bels eigenem Stück The Show must go on zitiert, das dort gezeigt wird. Wo er sich bei Cunningham in einem kondomhaften Anzug zwängen musste, darf er bei Bel Straßenkleidung tragen, es gibt keinen Stress, es muss nicht einmal getanzt werden, es geht nur darum zu tun, was in den angespielten Popsongs gesagt wird. Und so steht Cédric Andrieux in Cédric Andrieux noch einmal am Bühnenrand, während Stings Every breath you take läuft, und schaut in den hell erleuchteten Zuschauersaal- „I‘ll be watching you“. Das Schöne daran ist, sagt er, dass das Theater hier einmal andersherum funktioniere, nicht er von den Zuschauern, sondern die Zuschauer von ihm angeschaut würden. Mehr kann man vom Theater nicht erwarten. Nicht nur als Ausführender nicht.

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