Anderthalb Jahre lang hat sich ein Konvent in mühevoller Arbeit um eine neue Verfassung verdient gemacht. Nur sind die Aussichten, dass die 388 Artikel dieser Charta am 4. September per Referendum angenommen werden, alles andere als ermutigend. Obwohl 2020 gut 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler fast euphorisch der Erarbeitung einer neuen Konstitution zugestimmt haben, deuten die meisten Umfragen Tage vor dem Votum auf einen Einbruch bei den Befürwortern hin. Die Erhebungen signalisieren einen Sieg des „Rechazo“, also der Absage an den vorliegenden Entwurf. Die optimistischste Prognose billigt dem Pro maximal 47 und einem Contra 53 Prozent zu. Ausgerechnet jetzt hat die Popularität des seit einem halben Jahr regierenden linken Präsidenten Gabriel
iel Boric mit 56 Prozent Ablehnung ein Tief erreicht.60 SchönheitsoperationenNatürlich ist es in Chile nicht ungewöhnlich, dass manche Prophezeiung abgegeben wird, die alles andere als später zutreffende Wahlergebnisse suggeriert und einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Meinungsbildung ausübt. Der „Servicio Electoral“ (Servel) jedenfalls rechnet mit einer Beteiligung von über 50 Prozent am 4. September, mehr als zur zweiten Runde der Präsidentenwahl Ende 2021; dies freilich vor allem deshalb, weil seit Jahresbeginn die über ein Jahrzehnt lang ausgesetzte Wahlpflicht wieder in Kraft ist, die aber von vielen nicht befolgt wird.Wie kam es wegen des Verfassungsentwurfs zum Stimmungsumbruch? Gründe liegen wohl im ersten Referendum vom Oktober 2020 zugunsten einer neuen Magna Charta und im Mai 2021 bei den sich anschließenden Wahlen eines 155-köpfigen Verfassungskonvents, der Gouverneure und Bürgermeister. Zu diesem Zeitpunkt war Aufbruch spürbar, andererseits hatte der Wahlmarathon auch eine erschöpfende Wirkung. Was nichts daran ändert, dass der Konvent eine Pionierleistung war. Dies traf nicht nur auf die paritätische Besetzung mit Frauen und Männern zu, sondern galt ebenso für das Vertretungsrecht der indigenen Völker, denen 17 Sitze eingeräumt waren. Zudem verfügte eine aus der Sozialrevolte von Ende 2019 hervorgegangene „neue Linke“ in der Versammlung über mehr als eine beschlussfähige Zwei-Drittel-Mehrheit, kein adäquates Abbild des sonstigen politischen Kräfteverhältnisses.Es kommt hinzu: Eine historische Umwälzung wollten die Rechtsliberalen wie die verbliebenen Anhänger der Pinochet-Diktatur (1973 – 1990) nicht hinnehmen. Je deutlicher sich die Konturen einer angereicherten Demokratie abzeichneten, umso aggressiver wurden die Attacken auf den Konvent und die Verfassungsinventur. Chiles ökonomische Elite rekrutiert sich aus einer Kompradorenbourgeoisie, die seit der Unabhängigkeit von Spanien (1818) vorzugsweise mit dem Abbau und Export von Rohstoffen, unter der Herrschaft des Generals Pinochet verstärkt mit Finanzspekulationen Megagewinne erzielt hat. Chile wurde zum Vorreiter sozialer Ungleichheit auf dem Subkontinent.Und wer über wirtschaftliche Privilegien verfügt, will keine demokratische Verfassung, deren rigorose Legalität eigenen Geschäften schadet. Worum es sich auch handelt – um eine größere Autonomie der Regionen gegenüber dem Moloch Santiago, eine umweltfreundliche wie klimaschonende Entwicklungsagenda, die Anerkennung indigener Kultur- und Territorialrechte oder die gebotene progressive Besteuerung der Eigentümer von nahezu 30 Prozent des Reichtums an Land – all das lehnt die Wirtschaftselite ab. Ihre Fürsprecher im Parlament und in den Medien beharren auf der Pinochet-Verfassung von 1980. Allein der wollen sie nach mehr als 60 Schönheitsoperationen in den vergangenen 30 Jahren höchstens ein 61. Versprechen zugestehen: das Antlitz des „demokratischen Rechtsstaates“. Die Verunsicherung greift derart um sich, dass die Koalitionsparteien der Regierung von Präsident Boric eine Vereinbarung unterzeichnet haben, wonach eine neue Verfassung den Fortbestand des Privateigentums (etwa im Fall privater Krankenversorgung) garantiert. Zugleich wurden Änderungen zugesagt, sollte eine Mehrheit diese Konstitution annehmen.Dem ultrakonservativen Aufbegehren gegen einen progressiven Zeitgeist folgt auch ein Teil des digitalen Universums, aus dem sich Millionen ihre Wahrheiten holen. Es gibt eine massive Desinformation mit internationaler rechtsradikaler „Expertise“. So begann der frontale Angriff auf den Konvent bereits im Oktober 2021, als Chiles Rechtsaußen-Politiker die rechtsextreme spanische Vox-Partei wegen ihrer „guten Ergebnisse“ um Hilfe baten. Nach einer stundenlangen Videokonferenz mit fünf Delegierten des Konvents und dem Madrider Vox-Chef Rocío Monasterio flog die in konservativen Medien rege Pinochet-Anhängerin Teresa Marinovic persönlich nach Spanien und holte sich „Expertise“.Im Dezember dann ließen die Ultrarechten den in Venezuela wegen eines Putschversuchs mit mehreren Toten angeklagten, nach Spanien entkommenen rechtsradikalen Oppositionspolitiker Leopoldo López nach Chile einfliegen. Sein Auftrag war es, die Chilenen mit der Gefahr eines „Abdriftens in venezolanische Verhältnisse“ zu verängstigen. Trotz dieser frechen Einmischung in innere Angelegenheiten des Landes blieb die Justiz untätig, und López erledigte seinen Auftrag.Schrott und LügenAnfang Juli 2022 meldete sich Widerstand aus London: Die Wähler sollten den neuen Verfassungsentwurf Chiles ablehnen. Es ist eine fiskalisch unverantwortliche, linke Wunschliste, lauteten Titel und Unterzeile eines militanten Artikels im Economist. Um die provokative Botschaft zu erhärten, war eine Rolle Toilettenpapier als bildliche Untermalung zu sehen. „Die alte chilenische Verfassung war nicht perfekt“, aber das Bruttoinlandsprodukt pro Person habe sich seit 1990 verdreifacht und die Armut sei zurückgegangen, verteidigte das Blatt die autoritäre Verfassung Augusto Pinochets, deren neoliberaler Geist die Geschicke Chiles auch 2022 weiter bestimmt. Dem Angriff schlossen sich transnationale Unternehmen an – allen voran Walmart aus den USA und ENEL aus Italien, dazu Dutzende einheimischer ultrakonservativer Politiker sowie Unternehmen wie die größte Einzelhandelskette Falabella, die Geschäftsführung des Santiago Stock Exchange und der Hedgefonds Moneda Asset Management, der mit einer umgerechnet 1,7-Millionen-Euro-Spende die mediale Kampagne des „Rechazo“ finanziert.Das Ergebnis der Vox-„Expertise“ ließ nicht auf sich warten: ein Hagel massiver Fake News, wie sie ähnlich die politische Atmosphäre in Spanien vergiften. Ein halbes Jahr später konstatierte Sebastián Valenzuela, Medienforscher an der Katholischen Universität in Chile, eine „brutale Fehlinformation mit weit verbreiteter Verwirrung“ über die neue Verfassung. Nicht zuletzt der Ablehnungskampagne in den sozialen Netzwerken stellte er ein Armutszeugnis aus: Nur drei Prozent der Kritiker hätten den Entwurf wirklich gelesen, mehr als 90 Prozent würden Schrott und Lügen zitieren. „Eine Sache ist es, dass ich Desinformation lese, eine andere, dass ich glaube, was ich lese“, warnt Valenzuela.Placeholder infobox-1