Schicksalstage der EU

Demokratie Ob in Italien, Österreich oder Frankreich: Die anstehenden Referenden und Wahlen verheißen für den Kontinent nichts Gutes
Ausgabe 48/2016
(Sonnen-)Untergangsstimmung?
(Sonnen-)Untergangsstimmung?

Foto: Christopher Furlong/Getty Images

Am nächsten Sonntag könnte Österreich Norbert Hofer wählen, Matteo Renzi das Referendum in Italien verlieren, mit ungeahnten Folgen für die italienischen Banken und den Euro, und die Franzosen könnten sich im Mai für Marine Le Pen – und damit für den Frexit – entscheiden. Dazwischen liegen noch Wahlen in den Niederlanden, und die europafeindliche AfD legt in Umfragen immer weiter zu. Europa war gestern. Die Entwicklung mutet an wie eine Lawine, die man zwar kommen sieht, die man aber auf halbem Hang nicht aufzuhalten vermag.

Wir erleben europäische Schicksalstage. Alles wird zwar beobachtet, aber scheinbar nichts kann unternommen werden. Amor Fati! Denn was sollte man tun? Wie kann man diejenigen, die da auf der Straße marschieren und beanspruchen, für das Volk zu sprechen, noch erreichen? Was der europäischen Zivilgesellschaft am meisten fehlt, ist ein überzeugender europäischer Gesellschaftsentwurf – und ein Machtanspruch, dafür alle gesellschaftlichen Kräfte zu bündeln, um die Idee auch durchzusetzen. Davon jedoch kann keine Rede sein: Die Linke ist in Europa zersplittert, die Liberalen sind zerstoben, die Konservativen fantasielos. Mit einem „Auf-der-Stelle-Treten“, das zu einem „Nur-nicht-Bewegen“ verkümmert ist, lässt sich aber kaum noch ein Wähler hinter dem Ofen hervorlocken. Es generiert weder Emotionen noch die Sinnhaftigkeit, dass hier an einem erkennbaren europäischen Projekt gearbeitet wird. Die Konturen dessen, was mit der EU noch erreicht oder bestenfalls erhalten werden soll, verwischen immer mehr.

Man muss es den Rechtspopulisten einfach lassen: Mobilisieren können sie besser. Mit viel Geld, professioneller PR und cleveren Social-Media-Strategien schaffen sie es, die Leute sprichwörtlich zu verführen. Wer das nicht glauben will, der möge sich ein paar Youtube-Videos anschauen, in denen Marine Le Pen zu Jugendlichen in Frankreich spricht, die mit glänzenden Augen die Trikolore schwingen.

Die Verteidigung Europas

Wenn Geert Wilders und Marine Le Pen, Norbert Hofer und Frauke Petry Europa vermeintlich verteidigen – was macht denn dann die offizielle europäische Politik? Die Verteidigung Europas, das müsste doch eigentlich das Motto der politischen Mitte und der europäischen Zivilgesellschaft sein. Darunter müsste man die Verteidigung des europäischen Humanismus und der Errungenschaften der Aufklärung verstehen, während die Rechten damit abgeschottete Grenzen und reaktionäre Gesellschaftsleitbilder meinen.

Und so zeichnet sich ab, was Hans Magnus Enzensberger schon in den 90er Jahren einen „molekularen Bürgerkrieg“ nannte, zwischen den Befürwortern einer Öffnungs- und den Protagonisten einer europäischen Abschottungsagenda. Diese Auseinandersetzung hat längst transnationale Züge angenommen. Nur vordergründig ist also das, was augenblicklich passiert, eine Renationalisierung Europas. Es ist, in den Worten des österreichischen Malers Franz Marc von 1914, „ein europäischer Bürgerkrieg, ein Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes, gegen den Ungott und Unhold Europas, die Dummheit und Dumpfheit, das ewig Stumpfe“.

Die Hilflosigkeit der Politik ist mit Händen zu greifen, weil rote Linien nicht gezogen wurden und nicht gezogen werden können. Donald Trump knüpfte die Berufung von US-Verfassungsrichtern an ihre Abtreibungsgegnerschaft und die Befürwortung von Waffenbesitz – die Beziehungen zu Amerika werden darum nicht abgebrochen. Ungarns Victor Orbán wurde innerhalb der eigenen Parteienfamilie, der EVP, nie öffentlich abgemahnt. Heute kann er Zeitungen verbieten und nichts geschieht. In Polen werden Nichtregierungsorganisationen wirtschaftlich ausgetrocknet. Geld gibt es in Polen heute eher für eine Konferenz über die Rolle von Mutterschaft in der Gesellschaft als über die Zukunft Europas. Polens Künstler und progressive Kulturschaffende sind längst von diesem Trend erfasst und sorgen sich um ihre Mittelzuwendungen 2017. Das alles aber passiert unterhalb des Radars, der in Deutschland auch nur für eine sorgenvolle Erwähnung sorgen würde. Die Erosion der Demokratie ist gleichsam subtil, sie bietet keine konkrete Angriffsfläche.

Was also ist das Schicksal der EU? Das Schlimmste an diesem Schicksal scheint die schnelle Gewöhnung daran zu sein, das alles, was gestern noch als unmöglich und unzumutbar galt, heute im politischen Raum faktisch akzeptiert wird. Die Börsen haben sich gerade mal drei Stunden genommen, um über Donald Trumps Wahlsieg zu hüsteln, dann schien erst mal alles wieder gut. Polen verzeichnet Auslandsinvestitionen wie nie, die polnische Wirtschaft steht gut da, die Regierungspartei PiS kann sich soziale Programme leisten, etwa ein ordentliches Kindergeld, das viele Frauen mit schlechtem Lohn zum Nachdenken bringen dürfte. Ausgerechnet die liberalen Briten stellen gerade zu Tausenden Beamte ein, um den Brexit zu managen, und kurbeln die Wirtschaft mit staatlichem Geld an. Schicksalsjahre? Politik und mithin Europa hat einen Preis, den die politische Mitte nicht bezahlen wollte. Hoffentlich kommt die Reue nicht zu spät.

Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab

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